Differences and Similarities between Branches of Law
28/2019
ISBN 978-9985-870-44-0
Issue
Pursuant to its Article 51 (1), the EU Charter of Fundamental Rights covers the implementation of EU law. Since 2014, the Estonian Supreme Court has applied the assumption that the Charter, in principle, does not preclude parallel applicability of national-level fundamental rights in areas subject to EU law, although the primacy, unity, and effectiveness of EU law must not be compromised thereby. The Member State's margin of appreciation should not be considered a precondition for the relevance of national fundamental rights. Even mandatory norms of EU law, which inevitably require certain national measures (e.g., permission to use a piece of music for sampling as in CJEU case C-476/17: Pelham), do not exclude the applicability of constitutional rights (here, the composer's copyright), though these can justify their restriction. Hence, the relevant piece of EU legislation itself must be valid. The CJEU should follow the principle of constitutional plurality in dialogue with national courts when examining the validity of EU norms restricting national fundamental rights. A parallel analysis of the national constitution and Charter by the competent national court would assist the CJEU in issuing a preliminary ruling. The most favourable standard of the fundamental rights in sense of the Article 53 should not be determined on merely abstract terms. Instead, the results of parallel analysis in light of the pending case should be of decisive importance. One conclusion presented is that in cases of multipolar conflict, there remains the possibility that a even fundamental right of one person that is derived from a national constitution can sometimes justify infringement on the charter-based right of another if there is no secondary legal balance of legal positions. In addition, exceptional situations might exist wherein fundamental principles of national constitutions may be granted precedence over the effectiveness of EU law.
Keywords:
fundamental rights; multipolar conflicts; constitutional pluralism; EU Charter of Fundamental Rights; implementation of EU law
1. Vorbemerkung
Estland trat der EU im Jahre 2004 bei. Ein Jahr davor wurde durch die Volksabstimmung das Gesetz zur Ergänzung der Verfassung (GEV) genehmigt. *2 Die §§ 1 und 2 GEV legen fest, dass Estland ausgehend von den Grundprinzipien ihrer Verfassung der Europäischen Union angehören kann und dass die Verfassung unter Berücksichtigung der sich aus dem Beitrittsvertrags ergebenden Rechte und Pflichten angewandt wird. Nach dem Inkraftreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) am 01.12.2009 hat sich in mehreren Mitgliedstaaten der EU die Frage der Anwendbarkeit von nationalen Grundrechten im Geltungsbereich des Unionsrechts aktualisiert. *3 Auch der EuGH hat vor kurzem in einigen Fällen seine Stellungnahme zu diesem Thema geäußert. Ziel dieses Beitrags ist zuerst einen Überblick über die Entwicklung der relevanten Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs Estlands (StGH) zu gewähren (2), danach aber die Details des sog. parallelen Anwendungsmodells der Grundrechte, darunter dessen Europarechtskonformität zu erörtern (3).
2. Die verfassungsrechtliche Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs im Geltungsbereich des EU-Rechts
Für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze in Estland ist der Staatsgerichtshof mit seinen 19 Richtern zuständig, der gleichzeitig als höchste Instanz in Zivil-, Straf- und Verwaltungssachen fungiert. Einen Antrag auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm können der Präsident der Republik und der Justizkanzler stellen. Die konkrete Normenkontrolle ist von ordentlichen Gerichten und den Verwaltungsgerichten einzuleiten, soweit sie der Ansicht sind, dass ein einschlägiges Gesetz verfassungswidrig ist (§§ 15 Abs. 2, 107 Abs. 2 S. 2, 142 S. 2 der Verfassung der Republik Estland *4 ). Es ist bis heute einmal vorgekommen, dass der Staatsgerichtshof durch die direkte Anwendung des verfassungsgemäßen Klagerechts die Verfassungsbeschwerde einer Privatperson direkt an Staatsgerichtshof für zulässig erkannt hat. *5
2.1. Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs bis 2015
Die Rechtsprechung des StGH in Fragen des Verhältnisses zwischen der estnischen Verfassung und dem EU-Recht war bisher recht integrationsfreundlich und ließ sich von folgenden Grundprinzipien leiten:
– Verfassungsänderungsgesetz hat eine durchgehende Änderung der Verfassung mit sich gebracht, nur der Teil der Verfassung, der im Einklang mit dem EU-Recht steht, kann angewendet werden (Verdrängung der Verfassung); *6
– ein Verstoß gegen das EU-Recht bedeutet nicht unbedingt gleich einen Verstoß gegen die Verfassung, somit kann die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit nicht allein aufgrund des EU-Rechts eingeleitet werden (Separation des Kontrollmaßstabs); *7
– eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit kann nicht bezüglich des EU-Sekundärrechts und im Regelfall auch nicht bezüglich des nationalen Umsetzungsgesetzes eingeleitet werden. Eine Ausnahme bilden nur die formelle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, die Situationen außerhalb des Geltungsbereichs des EU-Rechts und die Nutzung der durch das EU-Recht überlassenen Umsetzungsspielräume (Separation des Kontrollgegenstandes); *8
– vor der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit hat das Fachgericht den Einklang des Gesetzes mit dem EU-Recht zu prüfen. *9 Im Falle eines Verstoßes gegen EU-Recht ist das Gesetz im Rechtsstreit nicht anzuwenden, ohne dass eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eingeleitet wird (Beschränkung der Entscheidungserheblichkeit des Gesetzes). *10
Die Parallelen mit der Trennungsthese und der Solange-Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) *11 sind hier deutlich. Zudem war der Staatsgerichtshof immer bemüht, die Verfassung im maximalen Einklang sowohl mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) als auch mit der Grundrechtecharta auszulegen und das auch in Streitigkeiten außerhalb jeglichen Geltungsbereichs des EU-Rechts und sogar schon vor dem Beitritt Estlands zur EU. *12 Nach einem früheren obiter dictum *13 des StGHfunktionieren die im § 1 VEG genannten Grundprinzipien der Verfassung als Integrationsschranke nur gegenüber des primären Unionsrechts, nicht hinsichtlich des Sekundärrechts.
2.2. Der Fall der Energiegebühren
In einem Rechtsstreit über Sondergebühren zur Unterstützung der Erzeugung der erneuerbaren Energie korrigierte das Plenum des Staatsgerichtshofs im Jahre 2015 die referierten Stellungnahmen der Senate. Das Plenum führte jetzt aus, dass die Betroffenheit einer Rechtsvorschrift mit dem EU-Recht an und für sich die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm nicht hindern kann. „Das Recht der Europäischen Union verbietet keinesfalls den Mitgliedstaaten die nationalen Grundrechte in dem Maße zu gewährleisten, in dem die Umsetzung dieser Grundrechte den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt.“ *14 Daher geht der estnische Staatsgerichtshof von der parallelen Anwendung (Doppelgeltung) der Grundrechte aus und dies scheint der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Åkerberg Fransson *15 und Melloni *16 wohl zu entsprechen (dazu näher unten).
Die Frage der Anwendbarkeit der Grundrechte war nicht die Hauptfrage des Energiegebühren-Urteils des StGH. Auch hätte die frühere Trennungsthese die Anwendung der estnischen Grundrechte im gegebenen Fall nicht verhindert, da die Mitgliedstaaten im relevanten Fachbereich über einen weiten Anwendungsspielraum verfügen. Obwohl die Änderung der Position im konkreten Rechtstreit nicht ergebnisrelevant war, ist die neue Position des Staatsgerichtshofs deutlich. Andererseits gab es später noch einen Fall bezüglich des Wahlrechts der Gefangenen, in welcher der Verwaltungssenat des StGH zwar die estnische Verfassung anwandte, dies aber wieder mit der Rhetorik der alten Trennungsthese begründete. *17
3. Die Einzelheiten der parallelen Anwendung von Grundrechten
Bei der Auslegung von Art. 51 Abs. 1 GRCh gehe ich von der These aus, dass die Charta im Anwendungsbereich des EU-Rechts gilt. *18 Die Charta muss nicht nur da angewandt werden, wo die Mitgliedstaaten zwingende Befehle des Sekundärrechts vollstrecken, sondern auch bei Richtlinien, die den Mitgliedstaaten breite Entscheidungsfreiräume gewähren, *19 sogar in den Fällen, in denen die Tätigkeit nur mittelbar die Belange der Union, etwa Finanzinteressen berühren kann. *20 BVerfG reagierte auf solche breite Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GRCh mit Sorge und drohte den Mechanismen der ultra-vires-Kontrolle und Identitätsverletzung zu aktivieren. *21 In seiner jüngeren Rechtsprechung hat der EuGH einen vorsichtigeren Weg gesucht und betont, dass die Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 GRCh „einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad“ verlangt. *22
Das Anwendungsbereich des GRCh in Rechtsprechung des EuGH bleibt jedoch eher weit und dies bedeutet zwingend, dass die Chartagrundrechte in mehreren Bereichen neben der nationalen gelten, es sei denn, der Mitgliedstaat beschränkt die Anwendbarkeit seines eigenen Grundrechtskatalogs freiwillig. Das Unionsrecht selbst kennt kein allgemeines Verbot zur zusätzlichen Anwendung der innerstaatlichen Grundrechte im Anwendungsbereich der Charta, *23 sondern regelt ihre Konkurrenz mit dem Unionsrecht im Art. 53 GRCh. *24 Diese Doppelgeltung der Grundrechte wird zusätzlich von ERMK ergänzt. Estnische Richterin in Straßburg J. Laffranque ist der Meinung, dass die gleichzeitige Verwendung verschiedener Grundrechtsdokumente nur die Legitimität des Gerichtsurteils stärkern würde, obwohl die nationalen Gerichte nicht immer neben der Verfassung die Charta und die Konvention erwähnen brauchen. *25 Bundesverfassungsrichter J. Masing beschreibt diese Situation dagegen mit dem Wort „Grundrechtsüberdruck“ und warnt vor ernsten Schwierigkeiten. *26 Gerade diese Schwierigkeiten werden folgend näher erörtert, darunter die Fragen, wie die Determiniertheit des Unionsrechts die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines nationalen Gesetzes beeinflusst (3.1), welches Grundrecht wann genauer – nationales oder europäisches - den Vorrang hat (3.2.), ob die Verfassungsgrundrechte im Falle der Unionsrechtswidrigkeit eines Gesetzes als ergänzender Kontrollmaßstab fungieren könnten und sollten (3.3), ob das Sekundärrecht doch in extremen Kollisionsfällen vor einem Verfassungsgrundrecht zurücktreten könnte (3.4) und wie die Grundrechte unterschiedlicher Niveaus in multipolaren Beziehungen anzuwenden sind (3.5).
3.1. Doppelprüfung trotz Determiniertheit
Nach herrschender Meinung ist die kumulative Anwendung von Grundrechten nur im Falle des mitgliedstaatlichen Umsetzungsspielraums möglich. *27 Statt der Verdrängung der nationalen Grundrechte könnte im unionsrechtlich determinierten Bereich jedoch eine Europäisierung des nationalen Grundrechtschutzes *28 stattfinden. Nichts verbietet dem mitgliedstaatlichen Gericht zuerst den bloßen Eingriff in das Verfassungsgrundrecht in einem von der EU vollständig harmonisierten Bereich festzustellen. *29 Falls das Unionsrecht einen solchen Eingriff zwingend und rechtmäßig fordert, ist es auch eben nur ein Eingriff, nicht eine Verletzung des Grundrechts. In Extremfällen könnte eine derartige unionsrechtlich determinierte Beschränkung der nationalen Grundrechte nach dem § 32 Abs. 1 S. 1 der estnischen Verfassung und dem § 16 des estnischen Staatshaftungsgesetzes *30 sogar einen Aufopferungsanspruch begründen, z.B im Falle der Festlegung eines Natura-Schutzgebietes. *31
Generalanwalt M. Bobek hat in seiner jüngsten Stellungnahme mehrere Konstellationen vorgeführt, in denen abhängig von der Harmonisierungsdichte der unionsrechtlichen Bestimmung und von der „Entfernung“ zwischen dem Sachverhalt und der Norm entweder gar kein Umsetzungsspielraum des Mitgliedstaats vorliegt oder aber ein kleiner oder ein großer vorliegt. *32 Seine Argumentation überzeugt, dass abstrakt die Abgrenzung des mitgliedstaatlichen Spielraums eine sehr komplizierte Aufgabe ist. Anstatt dessen sollte man prüfen, ob die sich aus der nationalen Verfassung im konkreten Fall ergebende Gerichtsentscheidung als Endergebnis in den Rahmen des EU-Rechts passe oder ob sie es beeinträchtige. *33 Bei einer solchen Gefahr gibt es keinen Unterschied, ob das Unionsrecht dem Mitgliedstaat überhaupt keinen Gestaltungsspielraum überlässt oder ob die Anwendung der Verfassung die Grenzen des größeren oder des kleineren Anwendungsspielraums überschreiten würde. Die Folge ist in allen solchen Fällen gleich – eine Kollision, bei der das nationale Recht, sogar die Verfassung in dem zu lösenden Fall dem EU-Recht ausweichen muss. *34 Ohne irgendeine Kollision mit dem Unionsrecht gibt es zumindest keinen unionsrechtlichen Grund das nationale Recht auszuschalten. *35
Dabei kann das Fehlen des Anwendungsspielraums auch nur scheinbar sein. Die den Entscheidungsraum einschränkende Richtlinie selbst kann im Widerspruch zur Charta oder zum sonstigen Primärrecht stehen, so wie dies bei der Speicherung der Antiterrordatei passiert ist. Bei einem solchen Verdacht ist das Problem im Vorabentscheidungsverfahren zu lösen. *36 Dabei müsste sich der EuGH seinerseits bemühen, der Charta im Geiste des Grundrechteverbundes und des Verfassungspluralismus, d.h. auch unter Berücksichtigung von mitgliedstaatlichen Grundrechten *37 zu interpretieren (Art. 52 Abs. 4
und 6 GRCh). *38 Dies wiederum setzt voraus, dass jeweiliges Verfassungs- oder Fachgericht *39 des Mitgliedsstaates zum Zeitpunkt des Vorabentscheidungsersuchens den Rechtsstreit im Lichte seiner eigenen Verfassung schon beurteilt hat. *40
Es ist zu warten, ob der EuGH den Generalanwalt in der Sache Pelham, die der deutsche Bundesgerichtshof (BGH) nach einem Verfassungsbeschwerdeverfahren im BVerfG vorgelegt hat, folgen wird. Die Parteien im Revisionsverfahren vor dem BGH streiten über die Komposition eines Musikstücks durch Sampling. Der Generalanwalt ist in seinen Schlussanträgen der Meinung, dass die Urheberrechtsrichtlinie der EU die Revisionsklägerin Pelham GmbH die freie Nutzung des Werks „Metall auf Metall“ des Revisionsbeklagten – der Gruppe Kraftwerk – verbietet. Seiner Meinung nach hat der EU-Gesetzgeber die kollidierenden Rechte der Parteien im Lichte der Grundrechtecharta abgewogen und dabei ein angemessenes Gleichgewicht gefunden. *41 Ein freies Nutzungsrecht für Sampling besteht nach der Meinung der deutschen Gerichte aber nach dem nationalen Urheberrecht. Dieses Recht widerspricht nach der Auffassung des BVerfG nicht das deutsche Grundgesetz. Nach der Trennungsthese wäre die Verfassung in diesem Streit mangels Umsetzungsspielraums aber unanwendbar. *42 Nach dem Parallelmodel des estnischen StGH wäre die nationale Verfassung zwar anwendbar, der Eingriff in die Kunstfreiheit des Phonogrammnutzers jedoch wegen der Urheberrechtsrichtlinie gerechtfertigt, falls die freie Sampling durch sie tatsächlich ausgeschlossen ist.
Dies bedeutet nicht, dass die nationalen Gerichte ihre Prüfungen immer mit der Verfassung beginnen müssen. Es ist wohl möglich, die Verfassung unberührt zu lassen, in Situationen, in denen der Entscheidungsraum des Mitgliedsstaates durch die Richtlinie eindeutig auf Null reduziert ist und kein Zweifel besteht, dass die Richtlinie mit der Charta übereinstimmt. *43 Die richtige Antwort hängt eher nicht von der Reihenfolge der Operationen ab (ob die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit oder der Europarechtskonformität zuerst kommt). Welcher Weg kürzer und effizienter im Sinne der Verfahrensökonomie ist, hängt von den Umständen des Falles und den normativen Regelungen des Fachbereichs ab.
Außerdem, wegen des Auslegungszusammenhangs (Art. 52 Abs. 4 und 6 GRCh) kann in der Regel von einem gleichwertigen Schutzniveau von Verfassung und Charta ausgegangen werden, *44 solange wichtige Gegenargumente wie z.B. die wesentlich unterschiedliche Struktur und der wesentlich unterschiedliche Wortlaut der Artikel, die Gestaltungsgeschichte der Bestimmungen oder die bisherigen Positionen des EuGH nicht das Gegenteil nachweisen. Beispiel: Die Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie hat der EuGH im Lichte der Grundrechtecharta als unverhältnismäßig aufgehoben. Nach Einschätzung der estnischen Justizkanzlerin verstößt deren Umsetzungsgesetz aber nicht gegen die Verfassung. *45 Bei der Auslegung der Verfassung im Geiste der Charta ist auch umgekehrt Vorsicht geboten, dies darf nicht zur generellen Absenkung des in der Verfassung vorgeschriebenen Schutzniveaus führen. *46
3.2. Meistbegünstigungsklausel
Keine Bestimmung der Charta ist als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die u.a durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden (Art. 53 GRCh). Laut der Åkerberg-Formel *47 darf ein Mitgliedstaat im Anwendungsbereich des EU-Rechts keinen niedrigeren Schutz im Vergleich zur Charta anbieten. Der Mitgliedsstaat kann einen höheren Standard im Vergleich zur Charta anbieten, soweit infolge dessen der Vorrang, die Einheit oder die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden. *48 Diese Kriterien hängen von Grad des Ermessens der Mitgliedstaaten ab und sollten nicht immer wörtlich genommen werden. *49
Die Schutzniveaus verschiedener Grundrechtsquellen sollten aufgrund des Art. 53 GRCh nicht abstrakt verglichen werden. *50 Vor der konkretisierten Anwendung der Rechte verschiedener Ebenen in einem relevanten Fall ist nicht bekannt, in welchem Umfang diese den Verfahrensbeteiligten tatsächlich Schutz bieten würden. *51 Zum Beispiel kann das nationale Grundrecht einen umfangreicheren sachlichen Schutzbereich haben, dabei aber breitere Eingriffsvorbehalte im Vergleich zur Charta vorsehen. Das Fachgericht eines Mitgliedsstaates sollte *52 jeden konkreten Fall eben parallel im Lichte der Grundrechtecharta und der Verfassung bewerten und so die für den Grundrechtsträger im Ergebnis die günstigste Garantie feststellen. Ist das günstigste Regime die nationale Verfassung, muss zusätzlich die Vereinbarkeit ihrer Anwendung mit den Unionsrechtsakten geprüft werden. Verlangt das Unionsrecht die Maßnahme– z.B. den Vollzug des europäischen Haftbefehls, muss der Grundrechtsträger es trotz der Verfassung dulden. Dabei können die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts „unionsrechtlich verpflichtet sein, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie [nicht] die Möglichkeit haben, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte zu verlangen als das durch das Unionsrecht gewährleistete“. *53
Die gemeinsame Verfassungstradition ist nicht eine Voraussetzung der Anwendung der mitgliedstaatlichen Verfassung nach der Meistbegünstigungsklausel. Nach Art 52. Abs. 4 GRCh ist es nur bei der Auslegung der Charta wichtig.
3.3. Anlehnung an das nationale Grundrecht beim Verstoß gegen das EU-Recht
Das Fehlen eines Spielraums bedeutet nicht unbedingt den Konflikt zwischen dem EU-Recht und der Verfassung. Im Falle eines Verstoßes gegen das EU-Recht, insbesondere gegen die Charta, kann das Umsetzungsgesetz – wegen des Auslegungszusammenhangs – wohl auch mit der nationalen Verfassung im Widerspruch stehen. *54 Durch die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit könnten die Gesetze, die gleichzeitig eine Richtlinie und die Verfassung verletzen, für unwirksam erklärt werden. *55 Ohne eine verfassungsgerichtliche Prüfung besteht Gefahr, dass solche Gesetze außerhalb des konkreten Rechtsstreits ihre Gültigkeit behalten. Laut Simmenthal-Urteil muss der Instanzrichter die Möglichkeit haben, das vom EU-Recht abweichende Gesetz nicht anzuwenden, ohne dass eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eingeleitet wird. *56 Nach dem Urteil „A. versus B.“ von 2014 darf eine solche Prüfung jedoch unter bestimmten Voraussetzungen eingeleitet werden. *57
3.4. Vorrang der Verfassung in Ausnahmefällen
Zudem ermöglicht die kumulative Anwendung von Grundrechten, die im Rechtsstreit M. A. S. und M. B. in 2017 genannten Ausnahmesituationen zu ermitteln. In diesen ermögliche die Nichtanwendung des nationalen Gesetzes zwar den Verstoß des EU-Rechts zu beseitigen, dies aber wiederum führe zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen. In solchen Situationen steht es den nationalen Behörden und Gerichten frei, unter den im Åkerberg-Urteil aufgestellten Voraussetzungen nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, wenn der Sachverhalt nicht durch unionsrechtlichen Vorschriften harmonisiert ist. *58 Heute ist es wahrscheinlich noch zu früh zu behaupten, dass es in den nationalen Verfassungen neben dem Grundsatz nulla poena sine lege keine weiteren fundamentalen Grundsätze *59 gibt, die schutzwürdig sein können, auch wenn der Preis in der gewissen Beeinträchtigung der Wirksamkeit des EU-Rechts besteht.
3.5. Multipolare Konflikte
Auch ein multipolarer Grundrechtskonflikt im Geltungsbereich des EU-Rechts schließt an sich die Anwendung des nationalen Grundrechts mit höheren Schutzniveau nicht aus. *60 Richtig ist zwar, dass beispielsweise „mehr“ für den Datensubjekt beim Schutz seiner Privatsphäre „weniger“ für die Freiheiten des Datenverarbeiters bedeutet. *61 Mehr Schutz für Phonogrammhersteller würde weniger Schutz für Künstler bedeuten, die das Phonogramm in ihrer Schöpfung benutzen wollen. *62 Dies schaltet aber die nationale Verfassung bei der Beurteilung des nationalen Umsetzungsgesetzes noch nicht aus. So würde die nationale Verfassung nicht nur deswegen mit der Charta im Widerspruch stehen, weil die Verfassung für Datensubjekt grundsätzlich einen höheren Schutz als Art. 8 GRCh (Schutz von personenbezogenen Daten) gegen den Datenverarbeiter sichern könnte. Der Widerspruch würde erst dann entstehen, wenn die Charta den Mitgliedstaat zwinge die Veröffentlichung der Daten durch den Datenverarbeiter wegen seiner Meinungsfreiheit (Art. 11 GRCh) zu erlauben, obwohl die nationale Verfassung eine solche Veröffentlichung zum Schutz des Privatlebens des Datensubjekts klar verbietet.
In der Regel müssten multipolare Konflikte der Rechte unterschiedlicher Ebenen dadurch gelöst werden, dass das Verfassungsgrundrecht der Person X. und das Chartagrundrecht der Person Y. gegeneinander unter Berücksichtigung der EU-Interessen und natürlich auch der harmonisierenden sekundärrechtlichen Normen erwogen werden. Den Eingriff in die Grundrechte der Charta können verschiedene legitime öffentliche und private Interessen rechtfertigen. *63 Die Chartarechte sind nicht per se vorrangig vor den Verfassungsgrundrechten. Dabei werden unter den Rechten und Freiheiten Anderer im Artikel 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh nicht nur die in der Charta festgesetzten, sondern auch nationale Rechte und Freiheiten berücksichtigt. *64 Eben auf die multipolaren Beziehungen hat man als die Situationen hingewiesen, in denen die Mitgliedsstaaten einen relativ breiten margin of appreciation behalten sollten. *65 Der Vorrang der Charta gegenüber der Verfassung kommt erst dann ins Spiel, wenn es klar ist, dass das Chartagrundrecht einer Person die Gewährleistung des Verfassungsgrundrechts einer anderen Person tatsächlich nicht zulässt. Dies könnte eher eine Ausnahmesituation darstellen, weil bei den kollidierenden Grundrechten selten strikte verfassungsrechtliche Regeln vorliegen. Damit sollte der vom Richtliniengeber gefundene Gleichgewicht *66 stets im Lichte der nationalen Verfassung zulässig sein.
Im Unterschied zu Österreich stellt die Charta in Estland und in Deutschland heute keinen direkten Kontrollmaßstab für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dar. *67 Als EU-Recht ist es tatsächlich nicht Teil der Verfassung geworden. Davon abgesehen scheint es unvermeidlich, dass bei multipolaren Beziehungen die Charta auch im Verfassungsgericht indirekt berücksichtigt wird. Es ist klar, dass das Verfassungsgericht ein Gesetz nicht für ungültig erklären darf, soweit die Aufhebung in der Verletzung von aus der Charta ergebenden Rechten der betroffenen Dritten resultieren würde. *68 Es wäre aber zweifelhaft, die sich aus der Charta ergebenden Rechte eines Klägers oder eines Antragsstellers, z.B. eines Datenverarbeiters, vor dem Verfassungsgericht unberücksichtigt zu lassen, soweit diese den Eingriff in die Chartarechte Dritter, etwa eines Datensubjekts stärker rechtfertigen könnten als die nationale Verfassung.
4. Zusammenfassung
Der Raum für die parallele Anwendung von Grundrechten ist eher weit als eng. Die determinierende Wirkung des Unionsrechts muss nicht die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit beschränken, sondern nur den Erlass von Urteilen, die das Unionsrecht beeinträchtigen. Vielleicht wäre es einfacher, im EU-Geltungsbereich nur mit der Charta zu operieren, dies ist aber in der heutigen Integrationsphase sicherlich noch nicht realistisch. Soweit die Abgrenzung des Umsetzungsspielraums und die Anwendung der Meistbegünstigungsklausel nicht abstrakt erfolgen, sondern in den Rahmen eines konkreten Falles bleiben, bereitet auch die parallele Anwendung der Grundrechte den Gerichten keine unüberwindbaren Schwierigkeiten und führt uns nicht zu einem exponentiellen Zuwachs von Vorabentscheidungsersuchen. Sowohl die Verfassungsgerichte als auch das EuGH könnten die Möglichkeit ausnutzen, voneinander zu lernen und die Argumente Anderer ernsthaft zu erwägen.
pp.9-16