Estonia in the European Union: Creation and Implementation of New Laws
XV/2008
ISBN 978-9985-870-25-9
Issue
Beteiligungsmodelle im neuen Estnischen Strafgesetzbuch. Begrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme durch Tatherrschaftslehre
Im Jahre 2002 ist in Estland im Gebiet des Strafrechts ein neues Ära begonnen; statt alten StGB (Kriminaalkoodeks) ist das neue StGB (Karistusseadustik) am 1. September 2002 in Kraft getreten. *1 Das war eine prinzipielle Erneuerung sowohl für die Theorie als auch für die Praxis, eine ganz neue rechtsdogmatische Lage; endete ein Prozess, der sogar als Kampf um das neue Strafrecht genannt wurde und der vom Wunsch „im estnischen Strafrecht endlich auf Leitlinien des Zentralkomitees der kommunistischen Partei der Sowjetunion zu verzichten“ getragen wurde. *2 Das alles hat auch natürlich die Beteiligungslehre des Strafrechts getroffen, die berechtigt als ein zentrales Gebiet des Strafrechts genannt wird, dass sowohl wegen des Umfangs als auch wegen der Kompliziertheit der Probleme. *3 Im Folgenden wird versucht die Beteiligungsprinzipien des neuen StGB zu schildern und kurz zu untersuchen, zu welchen Folgerungen estnische Strafrechtsdogmatik -und Praxis dabei gekommen ist.
1. Übergang zum neuen System –
die Prinzipien der bisherigen Beteiligungslehre
Paragraph 17 I StGB der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik von 1961 definierte die Teilnahme als vorsätzliche gemeinsame Beteiligung von zwei oder mehr Personen an der Begehung eines Verbrechens. Wie im russischen Original war auch in der estnischen Übersetzung eine gewisse Tautologie feststellbar: Teilnahme (estn. osavõtt, russ. součastie) wurde nämlich als Beteiligung (estn. osavõtmine,russ. učastie) definiert. Als Teilnehmer kamen – außer dem Täter – der Organisator *4 , der Anstifter und der Gehilfe infrage (§ 17 II StGB). *5 In der sowjetischen Strafrechtslehre hat man dennoch die Notwendigkeit hervorgehoben, die Formen der Teilnahme und die Typen der Teilnehmer zu unterscheiden. Während die Formen der Teilnahme auf die typischen Merkmale einer gemeinsamen kriminellen Tätigkeit abstellten, bezogen sich die Typen der Teilnehmer vorrangig auf die individuelle Tätigkeit jedes einzelnen Teilnehmers. Man versuchte dabei die zwei Kriterien der Klassifizierung derart zu vereinigen, dass die Teilnahme als gemeinsame verbrecherische Tätigkeit mit einem gemeinsamen verbrecherischen Zweck verstanden wurde, die sich in drei Formen äußern konnte: als einfache (russ. prostoe) Teilnahme (d.h. als Mittäterschaft), als zusammengesetzte (russ. složnoe) Teilnahme (oder Teilnahme im engeren Sinne, d.h. als Teilnahme mit „Rollenverteilung“) und als verbrecherische Organisation. *6
Dieses System der strafrechtlichen Teilnahme ist auch in die estnische Strafrechtsdogmatik der sowjetischen Ära übernommen worden, die sich des oben beschriebenen Sprach- und Begriffsgebrauchs bedient hat. *7
Die dargelegten theoretischen Grundlagen waren prägend für die Anwendung der Rechtsfigur der Teilnahme sowohl während der Gültigkeit der damaligen sowjetischen Strafgesetzbücher als auch nach der Einführung einer neuen Fassung des am 1. Juli 1992 in Kraft getretenen estnischen StGB. *8 Das bedeutet, dass bis zum Inkrafttreten des neuen StGB im Jahr 2002 die Teilnahme als verbrecherische Tätigkeit mehrerer mit einem gemeinsamen verbrecherischen Zweck verstanden wurde. Diese Voraussetzungen mussten sowohl bei der Mittäterschaft als auch bei der Anstiftung und der Beihilfe erfüllt sein. *9 Dabei hat aber das Staatsgericht *10 in ständiger Rechtsprechung betont, dass die konkrete Beteiligungsform (Mittäterschaft, Anstiftung, Beihilfe sowie das Organisieren einer Straftat) stets genau zu bezeichnen ist. *11
Wie das estnische Strafrecht aus der Zeit der staatlichen Selbstständigkeit vor dem Zweiten Weltkrieg hatten auch das zaristische und das sowjetrussische Strafrecht (ebenso das der Estnischen SSR) ihren Ursprung in der klassischen und neoklassischen Strafrechtsschule. Das bedeutete erstens, dass das Modell der Strafbarkeit von Einzelpersonen auf dem sogenannten restriktiven Täterbegriff beruhte, und zweitens, dass als Teilnahmetheorie die formal-objektive Theorie Anwendung fand, ohne dass jedoch auf die entsprechende Bezeichnung der Theorie hingewiesen wurde. In der Rechtsprechung des estnischen Staatsgerichts finden sich zahlreiche Urteile, welche täterschaftliche Begehung ausschließlich bei eigenhändiger Erfüllung des Tatbestands annehmen und andere an der Straftat beteiligte Personen als Teilnehmer im engeren Sinne (Organisator, Anstifter oder Gehilfe) eingestuft haben. *12
Die novellierte Fassung des estnischen StGB von 1992 galt bis 2002 und wurde erst dann durch das neue StGB Estlands ersetzt. Das heute in Estland geltende StGB wurde am 6. Juni 2001 verabschiedet und ist am 1. September 2002 in Kraft getreten. *13 Die mit diesem Gesetzeswerk vollzogene Reform bedeutete sowohl für die Rechtsfigur der Tatbeteiligung wie auch für das gesamte estnische Strafrechtssystem eine vollständige Abkehr von den sie bis dato prägenden Einflüssen der russischen und sowjetischen Strafrechtsdogmatik. Als Vorbild für das gesamte neue estnische Rechtssystem und insbesondere für das neue Strafrecht wurden das deutsche Rechtsmodell und die ihm zugrunde liegende Dogmatik verwendet. *14
Das heute in Estland geltende Strafrecht hat den restriktiven Täterbegriffbeibehalten, da die neuere Strafrechtsentwicklung in Europa und insbesondere die deutschen Erfahrungen gezeigt haben, dass der extensive Täterbegriff sich durch keine praktischen Vorteile ausgezeichnet und sich auch im Hinblick auf die Rechtssicherheit nicht unbedingt positiv ausgewirkt hat. *15 Auf der rechtsdogmatischen Ebene findet in Estland ein Übergang zur Tatherrschaftslehre statt.
In der Reformdiskussion hat man zwar auch die Probleme der subjektiven Teilnahmetheorieerörtert, die in der deutschen Rechtsprechung vorzuherrschen schien. Die Übernahme dieser Theorie durch die Mehrheit der estnischen Strafrechtslehre stand dennoch nicht ernstlich zur Debatte. Eine Erklärung dafür liefern zum einen rechtsstaatliche Bedenken im Blick auf das Gebot der Rechtssicherheit und Bestimmtheit; dieser Gesichtspunkt ist umso bedeutender, als man es in Estland mit einer Übergangsgesellschaft zu tun hat, in der die Festlegung der rechtsstaatlichen Grundlagen des Strafrechts immer mehr an Bedeutung gewinnt. Zum anderen zeigten die Rechtsprechung sowie die rechtsdogmatische Diskussion in Deutschland, dass die subjektive Teilnahmetheorie immer mehr an Boden zugunsten der materiell-objektiven (Tatherrschafts-)Theorie verlor. *16
2. Grundstruktur und Funktionen des Beteiligungsmodells im neuen Strafgesetzbuch
2.1. Einordnung der Tatbeteiligung in das Strafrechtssystem
Der Straftatbeteiligung liegen auf der rechtsdogmatischen Ebene der restriktive Täterbegriff und das dualistische Beteiligungssystem (die Ausdehnung der Strafbarkeit außerhalb des Tatbestands) zugrunde. *17 Paragraph des 20 StGB besagt, dass der Täter und die Teilnehmer die Tatausführenden sind.
Im Unterschied zum früheren, aus der Sowjetzeit stammenden Strafrecht gibt es im BT des geltenden StGB keine besonderen Formen der Beteiligung mehr. *18 Dort findet man aber viele Tatbestände, bei denen die Straftatbegehung in einer Tätergruppe oder in einer kriminellen Vereinigung *19 als qualifizierende Merkmale, also als erschwerende Umstände betrachtet werden. Dabei ist die kriminelle Vereinigung im BT des StGB als delictum sui generis kriminalisiert (§§ 255, 256 StGB).
2.2. Überblick über etwaige Kategorien der Tatbeteiligung
Mit der Reform des Strafrechts wurden in der estnischen Lehre sowohl die Begriffsystematik als auch der Sprachgebrauch präzisiert. So unterscheidet man zunächst den Begriff des (Straftat-)Ausführenden, der als Täter oder als Teilnehmer auftreten kann (§ 20 StGB). Unter Täter versteht man den Alleintäter (§ 21 I Alt. 1 StGB), den mittelbaren Täter (§ 21 I Alt. 2 StGB) und den Mittäter (§ 21 II StGB). Die Teilnehmer sind der Anstifter und der Gehilfe (§ 22 StGB). Das neue Strafrecht hat auf die Figur des Organisators verzichtet (in der Praxis wird ehemaliger Organisator häufig als Mittäter behandelt).
Der AT des StGB enthält in § 23 eine Regelung, die sowohl auf die im StGB enthaltenen Verbrechen als auch auf die in anderen Gesetzen enthaltenen Ordnungswidrigkeiten *20 Anwendung findet. Diese Regelung besagt, dass bei den Ordnungswidrigkeiten nur die Täterschaft, nicht aber die Teilnahme strafbar ist.
2.3. Funktionen und Auswirkungen
etwaiger Kategorien der Tatbeteiligung
Der Täter wird entsprechend dem Tatbestand des BT des StGB als Alleintäter, Mittäter oder mittelbarer Täter zur Verantwortung gezogen. Für den Teilnehmer gilt, dass er nach demselben Tatbestand wie der Täter strafbar ist, wenn die gesetzliche Regelung bezüglich eines besonderen persönlichen Merkmals (§ 24 StGB) keine anders lautende Subsumtion vorschreibt (§ 22 IV StGB).
3. Darstellung der einzelnen Beteiligungsformen
3.1. Täterschaft
3.1.1. Alleintäterschaft
Alleintäter ist die Person, welche die Straftat als unmittelbarer Täter selbst begeht (§ 21 I Alt. 1 StGB). Während das alte StGB den Täter als die Person definierte, welche die Tat unmittelbar begeht, bestimmt das geltende StGB, dass der Alleintäter die Straftat selbst begeht. *21 Die Figur der Nebentäterschaft – wenn auch dem geltenden StGB und der Rechtsprechung nicht bekannt – wird in der Literatur behandelt. *22
Der Täter wird – entsprechend der Formulierung des konkreten Tatbestands des BT des StGB – als Alleintäter, mittelbarer Täter oder Mittäter zur Verantwortung gezogen. Nach den Richtlinien des Justizministeriums *23 wird die vom Täter begangene Straftat im Urteilstenor *24 grundsätzlich nur als Tatbestand des BT ausgewiesen; die Straftatsubsumtion benötigt also hinsichtlich der Täterschaft keinen Verweis auf § 21 StGB. *25
Der Alleintäter, der die besonderen vom Gesetz verlangten persönlichen Merkmale (Qualifikationen) nicht besitzt, wird nach dem Grundtatbestand zu bestrafen sein, während das Vorhandensein der entsprechenden Merkmale beim Alleintäter zur Anwendung des qualifizierten Tatbestands führt. *26 Im estnischen Strafrecht ist grundsätzlich nur die vorsätzliche Begehungsform strafbar; die Fahrlässigkeit muss nach § 15 I StGB im speziellen Tatbestand ausdrücklich unter Strafe gestellt sein.
3.1.2. Mittäterschaft
Bis zur Strafrechtsreform 2001 ging die estnische Rechtsprechung grundsätzlich von den Voraussetzungen der formal-objektiven Teilnahmetheorie aus. *27 Es lässt sich feststellen, dass die Gerichte zumindest in all den Fällen den Begriff der Mittäterschaft sehr weit aufgefasst haben, in denen alle Mittäter am Tatort anwesend waren, was dazu geführt hat, dass der Übergang zur Tatherrschaftstheorie grundsätzlich erleichtert wurde. *28 Dabei machte das Staatsgericht allerdings eine wesentliche Einschränkung: Die Allein- und Mittäterschaft sowie die Beihilfe seien durch das Merkmal unmittelbar (§ 17 III StGB a.F.) zu unterscheiden, d.h. für die Mittäterschaft seien ausschließlich eigene tatbestandsmäßige Handlungen erheblich. Demnach konnte als Mittäter nur eine Person angesehen werden, die den Tatbestand unmittelbar erfüllte. *29 Diese und in der Nachfolgezeit erlassene ähnlich lautende höchstrichterliche Entscheidungen *30 ernteten scharfe Kritik in der Strafrechtslehre. *31 Der Standpunkt des Staatsgerichts lässt sich vor allem damit erklären, dass das in § 17 III StGB a.F. vorgesehene Merkmal unmittelbar eine weitergehende Formulierung kaum ermöglicht hätte. Nicht zu übersehen ist dabei allerdings, dass gerade diese Urteile des Staatsgerichts den Weg zur Anwendung der Tatherrschaftstheorie eröffnet haben. Es ist nämlich der Ansicht zuzustimmen, dass die Tatherrschaftstheorie eine Fortentwicklung der formal-objektiven Theorie ist und die Täterschaft auch in solchen Fällen für möglich hält, in denen der Betreffende die Ausführungshandlung nicht selbst vornimmt. Die auf der materiell-objektiven Theorie aufbauende Tatherrschaftslehre hat die Lücken der formal-objektiven Theorie auf diese Art und Weise vermieden. *32
Da der Täterbegriff nach geltendem StGB nur durch das Merkmal selbst bestimmt wird, ist die persönliche Erfüllung der Tatbestandsmerkmale durch einen Täter (Mittäter) nach allgemeinem Verständnis der estnischen Rechtsprechung und Lehre nicht mehr erforderlich. Damit scheint ein weiterer Schritt der Ausweitung der Tatherrschaftstheorie auf die estnische Beteiligungslehre vollzogen zu sein. *33
Auch wenn die Tatherrschaftslehre durch die Rechtsprechung des Staatsgerichts bestätigt wurde, gilt sie in Estland noch nicht in vollem Umfang. *34
Zum Zweck der Vereinheitlichung der Rechtsprechung bezüglich der Mittäterschaft hat das Staatsgericht in einem Urteil *35 folgende Feststellungen als obiter dicta getroffen:
– Alle Mittäter müssen gemäß § 21 II 2 StGB gemeinsam und übereinstimmend handeln. Die Straftat ist dann gemeinsam begangen, wenn die Mittäter das Geschehen im Sinne eines arbeitsteiligen und funktionalen Zusammenwirkens beherrschen. Das bedeutet, dass jeder Mittäter einen wesentlichen Tatbeitrag zu der einheitlichen Tat leisten muss, von dem die Verwirklichung des gemeinsamen Ziels abhängt. *36 Es ist nicht erforderlich, dass die einzelnen Mittäter selbst vollständig oder teilweise den objektiven Tatbestand verwirklichen. Die einzelnen Mittäter müssen also bei der Planung und der Ausführung der Tat nicht in gleicher Weise tätig werden. Das bedeutet, dass innerhalb der Mittätergruppe eine Person der anderen untergeordnet sein kann, was aber ihre strafrechtliche Stellung als Mittäter nicht berührt.
– Die subjektive Seiteder Mittäterschaft zeichnet sich durch einen gemeinsamen Tatentschluss aus, was bedeutet, dass eine Vereinbarung über die Straftatbegehung im Sinne von § 21 II 1 StGB getroffen worden sein muss. Die Mittäter müssen verabredet haben, die Straftat gemeinsam zu begehen; dabei werden ihre einzelnen Rollen und – unter Umständen auch – ihre gegenseitige Abhängigkeit festgelegt. Jeder Mittäter betrachtet seinen Tatbeitrag als einen notwendigen Bestandteil der gemeinsamen kriminellen Tätigkeit. Die Vereinbarung muss nicht notwendigerweise mündlich und vor dem unmittelbaren Ansetzen zur Tatbegehung (also im Vorbereitungsstadium) geschlossen worden sein; sie kann auch stillschweigend oder konkludent während der Begehung der Straftat erfolgen. *37
– Im Unterschied zur formal-objektiven Theorie ist eine vereinbarte und gemeinsam begangene Straftat als eine Ganzheit anzusehen; sie ist unteilbar und als solche allen Mittätern auch dann zurechenbar, wenn einzelne Mittäter nur einzelne Tatbeiträge eigenhändig geleistet haben. Diese gemeinsame Tat umfasst alle unwesentlichen Abweichungen der tatbestandsmäßigen Tätigkeit der Mittäter, die nicht als Exzess zu betrachten sind. Damit wird die Meinung begründet, dass § 21 II 2 StGB – der Tatherrschaftstheorie folgend – eine Zurechnungsnorm darstellt, nach der jedem Mittäter die Handlungen anderer Mittäter zugerechnet werden. Alle Mittäter müssen allerdings nicht nur allgemein Täterqualität besitzen (z.B. die geistige Zurechnungsfähigkeit), sondern auch die besonderen persönlichen Merkmale (wie z.B. bei Amtsdelikten das Merkmal des Amtsträgers). *38
– Jeder Mittäter muss das strafbare Geschehen kontrollieren können. Ist ein Tatbeitrag bereits in der Phase der Vorbereitung einer Straftat geleistet worden, stellt dies allein kein Hindernis dar, eine Mittäterschaft zu bejahen. *39
Aus diesen Vorgaben des Staatsgerichts lässt sich die Meinung ableiten, dass die Tatherrschaftstheorie ein fester Bestandteil der estnischen Rechtsprechung bezüglich der Teilnahmelehre geworden ist. Dabei ist zu Merken, dass Staatsgericht sog. extensive Tatherrschaftslehre angenommen hat und schon die Mitwirkung im Vorbereitungsstadium für die Mittäterschaft ausreichen lässt. *40 Im Schrifttum wurde es als „radikale Stellungnahme“ bezeichnet. *41
Infolge der Bejahung einer Mittäterschaft (§ 21 II 2 StGB) kommt entweder die Strafbarkeit der Mittäter wegen des Grunddelikts infrage (z.B. wegen Totschlags, § 113 StGB) oder – wenn sich die Qualifikation auf ein entsprechendes besonderes persönliches Merkmal bezieht – wegen eines Verbrechens, das in einer Gruppe begangen worden ist (z.B. wegen Gruppendiebstahls, § 199 II 7 StGB). *42
Im BT des estnischen StGB finden sich viele Tatbestände, in denen als qualifizierendes Merkmal – d.h. als erschwerender Umstand – die Straftatbegehung in einer Gruppe (Mittäterschaft im Sinne von § 21 II StGB) oder in einer kriminellen Vereinigung auftritt. Das Staatsgericht hat in vielen seinen Urteilen besonders hervorgehoben, dass das Merkmal „Begehung einer Straftat in einer Gruppe“ als Mittäterschaft gemäß § 21 II StGB und im Sinne der Tatherrschaftslehre aufzufassen ist. *43
Es sind keine Urteile des Staatsgerichts bekannt, die eine Mittäterschaft bei Fahrlässigkeitsdelikten bejahen. In der Literatur wird aber eine solche Möglichkeit nicht ausgeschlossen. *44
3.1.3. Mittelbare Täterschaft
Gemäß § 21 I Alt. 2 StGB kann der Täter die Straftat auch mittelbar begehen. Das Gesetz kennt allerdings die Figur der mittelbaren Täterschaft nicht; es spricht stattdessen von einem Täter, der die Straftat begeht, indem er „eine andere Person benutzt“. In Rechtsprechung und Lehre wird jedoch der Begriff „mittelbare Täterschaft“ sowohl vor als auch nach dem Inkrafttreten des neuen StGB gebraucht. *45
Während in § 17 I StGB a.F. die Teilnahme als gemeinsame Beteiligung am Verbrechen definiert war, ist nun in § 22 StGB n.F. von einer rechtswidrigen Tat die Rede. Infolgedessen reicht es nach dem geltenden Strafrecht für die Abgrenzung der mittelbaren Täterschaft von der Anstiftung nicht mehr aus, dass bei der mittelbaren Täterschaft der Vordermann nicht schuldhaft handelt, d.h. z.B. als Kind unter 14 Jahren oder als Geisteskranker keine Täterqualität besitzt. Bei der Feststellung der mittelbaren Täterschaft ist die Tatherrschaft zum entscheidenden Kriterium geworden. Die Abgrenzung hängt davon ab, ob die Handlungsherrschaft des unmittelbar Handelnden von der Willensherrschaft des Hintermanns überlagert wird. *46
Es reicht für die Strafbarkeit des Hintermanns aus, wenn der Tatausführende als „menschliches Werkzeug“ benutzt wird und eine Straftat, die dem Straftatbestand entspricht, in dieser „Eigenschaft“ begeht. Tatherrschaft in diesem Sinn bedeutet, dass der Hintermann zu entscheiden hat, ob, wo und wie die Tat zu begehen. Tatherrschaft im Sinne der mittelbaren Täterschaft kann in drei Formen auftreten – die Willensherrschaft kraft Nötigung, kraft Irrtums oder kraft organisatorischer Machtapparate. *47 In einer späteren Ent-
scheidung *48 hat das Staatsgericht das für die Tatherrschaft maßgebliche Erfordernis der „notwendigen Überlegenheit“ des Hintermanns wiederholt, d.h. sein Wissen über die Tat oder seinen Willen zur Tatbegehung durch den Vordermann hervorgehoben, und hat wiederholt bemerkt, dass mittelbare Täterschaft auch kraft „bestimmter Machtapparate“ möglich ist.
Damit ist festzustellen, das Staatsgericht sog. normativ-faktisches Tatherrschaftsverständnis (eingeschränkte Verantwortungsprinzip) angenommen hat und somit auch mittelbare Täterschaft im Form „Täter hinter dem Täter“ akzeptiert. In der Praxis wird es „stillschweigend“ im Gebiet der strafrechtlichen Verantwortung der juristischen Personen gemacht. Nämlich verlangt § 14 I StGB für die strafrechtliche Verantwortung der juristischen Personen, dass die Tat im Interesse von der juristischen Person vom Leitarbeiter der Firma begangen worden ist. Dementsprechend hat Staatsgericht in mehreren Entscheidungen gesagt, dass auch diejenige Leitperson als Täter zu behandeln ist, der wohl selbst keine tatbestandsmäßige Handlung vornimmt, wenn aber die Tat wegen seines Befehls oder mit seiner Beistimmung begangen worden ist. *49 Dabei wird aber auch unmittelbare Täter als Täter bestraft. *50
Somit ist festzuhalten, dass das Staatsgericht die Tatherrschaftstheorie bei der Anwendung der mittelbaren Täterschaft grundsätzlich anerkannt hat; ihre breite Anwendung in der Rechtsprechung der unteren Gerichte steht aber noch bevor. Die Tatherrschaftslehre als dogmatische Grundlage der mittelbaren Täterschaft ist auch im estnischen Schrifttum allgemein anerkannt. *51
Im neuen StGB sind verschiedene Formen des Versuchs geregelt. So bezieht sich § 25 III StGB auf den Versuch der mittelbaren Täterschaft. Danach liegt ein Versuch vor, wenn der Hintermann die Kontrolle über das Geschehen verliert oder wenn der Tatmittler nach den Vorstellungen des Hintermanns unmittelbar zur Ausführung der Straftat ansetzt. *52
3.2. Teilnahme
Die Teilnahme an einer Straftat ist in zwei Formen möglich, nämlich als Anstiftung und als Beihilfe (§ 22 I StGB). Sie muss drei gesetzliche Anforderungen erfüllen:
– Im Unterschied zum früher geltenden Strafrecht, bei dem für die Bejahung der Teilnahme die Haupttat der rechtlichen Qualität eines Verbrechens entsprochen haben, d.h. also auch schuldhaft begangen worden sein musste, ist Teilnahme nach der heute geltenden Regelung an einer „nur“ rechtswidrigen, d.h. nicht unbedingt auch schuldhaft begangenen Tat möglich. *53
– Die Teilnahme zeichnet sich durch den sogenannten Doppelvorsatz aus, d.h. der Vorsatz muss sowohl die Handlung der Anstiftung/Beihilfe als auch die der Haupttat selbst umfassen. Die beiden Formen der Teilnahme können in allen drei Vorsatzformen (§ 16 StGB) begangen werden. *54 Es reicht dabei aus, wenn der Teilnehmer sich die Umstände der Haupttat nur in groben Zügen vorstellt. *55 Der Teilnehmer ist auch dann strafbar, wenn die Haupttat vorsätzlich, der Erfolg aber fahrlässig verursacht wurde (§ 15 II StGB).
– Der Umstand, dass man nur an der Tat einer anderen Person teilnehmen kann, hat zur Folge, dass in Fällen, in denen der „Teilnehmer“ zuerst die Teilnahmetat verübt (Anstiftungs- oder Beihilfehandlung) und danach noch die Haupttat selbst begeht, nur als Täter strafbar ist. Den Grund dafür liefert die in der Rechtsprechung und Literatur herrschende Meinung, dass die schwerere Beteiligungsform (die Täterschaft) bei der Subsumtion die leichtere Form (die Teilnahme) „konsumiert“. *56 Diese aus dem früher geltenden Strafrecht übernommene Lehrmeinung ist allerdings heute umstritten.
Gemäß § 22 V StGB stellt zwar die Beihilfe gegenüber der Anstiftung die „leichtere“ Form der Teilnahme dar, dennoch ist auch hier für die Praxis die Frage von Bedeutung, ob die „leichtere“ Beihilfe von der „schwereren“ Anstiftung gleichfalls konsumiert werden kann oder nicht. Da die estnischen Gerichte bis dato beide Teilnahmeformen als gleichwertig betrachten, kann die Beihilfe nicht von der Anstiftung konsumiert
werden. *57
Beim Zusammentreffen verschiedener Teilnahmeformen liegt nach dem Verständnis der estnischen Rechtsprechung ein Fall von Realkonkurrenz der Teilnahmeformen vor.
Das estnische Strafrecht geht wie früher vom Grundsatz der limitierten Akzessorietätaus. Das bedeutet vor allem, dass eine tatbestandsmäßige Haupttat vorliegen muss, d.h. die Merkmale eines konkreten Tatbestands des BT entweder in Form der unmittelbaren oder der mittelbaren Täterschaft erfüllt worden sein müssen. *58 Das Erfordernis einer vorsätzlichen und rechtswidrigen Haupttat ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von § 22 II und III StGB.
Die Haupttat muss mindestens das Versuchsstadium erreicht haben. *59 Auch wenn das Vorliegen der Haupttat verlangt wird, ist es aber nicht notwendig, dass der konkrete Täter bekannt ist. *60
In der Lehre ist es unumstritten, dass für den Exzess eines Teilnehmers ausschließlich dieser selbst strafrechtlich verantwortlich ist. Der Teilnehmer haftet nur insoweit, als die Haupttat mit seinem Vorsatz übereinstimmt. Bei einem sogenannten quantitativen Exzess *61 wird der Haupttäter wegen der tatsächlich begangenen Tat bestraft, während der Teilnehmer bis zur Grenze seines eigenen Vorsatzes strafbar ist. Ebenso wird der Haupttäter eines sogenannten qualitativen Exzesses bestraft, der Teilnehmer bleibt aber in einem solchen Fall in Bezug auf die angestiftete Tat straffrei, da es sich hierbei um eine versuchte (erfolglose) Teilnahme handelt, die im estnischen Strafrecht nicht strafbar ist. *62
Im Gerichtsurteil muss darauf hingewiesen werden, in welcher Beteiligungsform der Betroffene gehandelt hat (Anstiftung/Beihilfe), ein allgemeiner Hinweis auf die Beteiligung reicht nicht aus. *63
3.2.1. Anstiftung
§ 22 II StGB bezeichnet die Anstiftung als vorsätzliches Bestimmen *64 eines anderen zur Begehung einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat. Die Lehre ist sich darüber einig, dass das Bestimmen das „Hervorrufen des Tatvorsatzes oder des Tatentschlusses beim künftigen Täter“ bedeutet. *65
Die Anstiftungshandlung kann in einer beliebigen Form stattfinden. Es ist aber erforderlich, dass sich die Anstiftung kausal auf die Begehung der Haupttat auswirkt. In der Lehre findet die sogenannte Kommunikationstheorie Zustimmung, die einen geistigen Kontakt zwischen dem Anstifter und dem Täter verlangt und die bloße einseitige Schaffung günstiger Bedingungen für die Tatbegehung nicht ausreichen lässt. *66
Auf der subjektiven Seite der Anstiftung können alle drei Formen des Vorsatzes vorliegen. *67 Für die Anstiftungstat wird ein Doppelvorsatzgefordert,d.h. der Vorsatz muss sowohl die Anstiftungshandlung als auch die Vollendung der Haupttat selbst umfassen.
Bei der Handlung eines agent provocateur ist die Strafbarkeit für Anstiftung wegen des Fehlens des subjektiven Tatbestands ausgeschlossen. *68 Es liegt keine Anstiftung im strafrechtlichen Sinn vor, wenn der Vorsatz des Anstifters, der als agent provocateur tätig ist, nur bis zum Versuchsstadium reicht, d.h. es würde sich nur um eine Anstiftung zum Versuch handeln, die in Estland nicht strafbar ist. Mangels Vollendungsvorsatzes kommt eine Strafbarkeit wegen Anstiftung in dieser Fallgestaltung also nicht in Betracht.
Es reicht aus, wenn der Vorsatz des Anstifters die wesentlichen Umstände der Haupttat umfasst und diese als konkretes und individualisierbares Ereignis betrachtet werden kann. Ein gemeinsamer Tatplan von Täter und Anstifter wird nicht gefordert. *69
Die Fragen des omnimodo facturus werden vom Staatsgericht nicht im Zusammenhang mit der Anstiftung erörtert. *70 In der Lehre nimmt man an, dass in Fällen, in denen der künftige Täter zur Tatbegehung entschlossen ist, bevor die Handlung des Anstifters erfolgt, keine Anstiftung vorliegt. Da im estnischen Strafrecht eine versuchte Teilnahme nicht strafbar ist, kommt allenfalls eine Strafbarkeit wegen psychischer Beihilfe in Betracht. Strafbare Anstiftung kann hier jedoch insoweit vorliegen, als der schon generell zur Tat Entschlossene zu einer Änderung seines Tatplans veranlasst wird.
3.2.2. Beihilfe
Gehilfe ist derjenige, der dem Täter vorsätzlich bei der Begehung einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat Hilfe leistet (§ 22 III StGB). Damit unterstützt er nur die fremde Tat und beherrscht sie nicht.
Die Beihilfetat kann in drei Formen geleistet werden: physisch, materiell oder geistig (§ 22 III StGB). Während die erste und die dritte dieser Formen als die traditionellen bezeichnet werden (sogenannte Hilfe durch Rat und Tat), ist die materielle Beihilfe eine Unterart der physischen Beihilfe, die sich primär auf die finanzielle (estn. aineline) Unterstützung des Täters bezieht. *71
Die Beihilfe muss zwar kausal für die Haupttat sein, aber es werden nicht zu strenge Anforderungen an die Kausalität gestellt. So ist es nicht erforderlich, dass ohne die Beihilfe die Haupttat überhaupt nicht möglich wäre. Es reicht völlig aus, wenn die geleistete Hilfe den Ablauf der Kausalkette positiv beeinflusst bzw. unterstützt, d.h. die Haupttat ohne die Handlung des Gehilfen wesentlich erschwert gewesen wäre. *72 Als Beihilfetat gilt auch solche, die im Rahmen des omnimodo facturus den beim Täter bereits vorhandenen Vorsatz unterstützt, bestärkt oder bestätigt. *73
Auch wenn die Haupttat nicht ohne Beihilfe zustande gekommen wäre, bedeutet dies nicht, dass es sich in einem solchen Fall um Täterschaft handelt. *74 Es ist allerdings möglich, dass in der Gerichtspraxis die Grenzen zwischen Täterschaft (z.B. das Eindringen in ein Gebäude und die Wegnahme einer Sache beim Diebstahl) und Teilnahme (z.B. Wachestehen unter dem Fenster des Gebäudes) verschwimmen. *75 Damit bestünde aber die Gefahr, dass die Abstammung der Tatherrschaftstheorie von der formal-objektiven Theorie nicht mehr erkennbar wäre und die Mängel der subjektiven Theorie dahingehend übernommen würden, dass die notwendige Voraussetzung der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale durch den Täter nicht mehr erforderlich wäre.
Das frühere StGB enthielt als eine Form der Beihilfe das im Vorhinein dem Täter gegebene Versprechen, ihn zu verbergen oder die Tat zu verheimlichen (§ 17 VI StGB a.F.). Im geltenden StGB gibt es eine entsprechende Bestimmung nicht mehr, was aber nicht bedeutet, dass in einem solchen Fall keine Beihilfe vorliegt. Es handelt sich dabei um eine geistige Beihilfe. *76
Auf der subjektiven Seite des Gehilfen können alle drei Vorsatzformen vorliegen. *77 Der Gehilfe handelt nach Meinung des Staatsgerichts vorsätzlich, wenn er es für möglich hält, dass er eine fremde Tat unterstützt und der Erfolg mit Hilfe seines Beitrags auch dann eintritt, wenn er diesen nicht gebilligt oder für nicht wünschenswert gehalten hat. *78 Bezieht sich aber der Vorsatz des Gehilfen nicht auch auf einen weitergehenden Erfolg, sind die Handlungen, die zwar objektiv die Haupttat unterstützt haben könnten, nicht als Beihilfe zu qualifizieren. *79
Im Urteilstenor sind ein Hinweis auf § 22 II StGB sowie die entsprechenden Paragraphen des BT erforderlich. Selbstverständlich ist auch eine Beihilfe möglich, die von mehreren, d.h. durch eine Gruppe begangen wird, was allerdings nicht aus § 22 II StGB hervorgeht.
Leistet jemand einer Gruppe Hilfe und gibt es be im Haupttatbestand die Qualifikation der Begehung durch eine Gruppe *80 , weist man bei der Subsumtion der Tat des Gehilfen auch auf das entsprechende qualifizierende Merkmal hin. Das bedeutet, dass der Gehilfe als Teilnehmer am Gruppendelikt strafbar ist, obwohl er selbst nicht zu der Gruppe gehört. *81
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