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JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

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Expectations to International and National Law

26/2017
ISBN 978-9985-870-40-2

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Das im Generalgouvernement in den Jahren 1939–1945 angewandte materielle Strafrecht

In der Zusammenfassung möchte ich nämlich feststellen, dass die von den deutschen Besatzungsbehörden für das Generalgouvernement in den Jahren 1939–1945 im Bereich des materiellen Strafrechts gebildete Gesetzgebung eins der wesentlichsten Elemente der Repressions- und Exterminationspolitik war. Meiner Meinung nach waren die im Generalgouvernement von verschiedenen Organen des nationalsozialistischen Dritten Deutschen Reichs eingeführten Vorschriften des materiellen Strafrechts besonders streng. Als Beispiel möchte ich hier nochmals an die Todesstrafe für die Juden erinnern, wenn sie in die Ghettos nicht übersiedelten oder deren Grenzen verließen, die auch alle anderen Personen betraf, die ihnen Zuflucht gewährten und insbesondere wenn sie die Juden außerhalb der Ghettogrenzen unterbrachten, sie fütterten oder versteckten. Nach meinem Wissen hatten die Deutschen während des II. Weltkrieges auf keinem der ihnen untergeordneten Gebiete so drastische Vorschriften eingeführt.

Keywords:

Nach der Beendigung der Kriegshandlungen im Oktober 1939 hat Deutschland eine Teilung der besetzten Territorien des polnischen Staates vorgenommen. Die nördlichen und östlichen Gebiete (u. a. Großpolen, Oberschlesien, Ostpommern) wurden dem Dritten Reich einverleibt. Aus den übrig gebliebenen Gebieten (Kleinpolen, Masowien, Lubliner Region) wurde am 26.10.1939 das Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete (hier weiterhin: GG) gebildet. Am 31.07.1940 wurde seine Bezeichnung in das Generalgouvernement geändert. Dieses wurde in vier Distrikte eingeteilt: Warschau, Radom, Lublin und Krakau. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Jahre 1941 wurde das GG um das fünfte Distrikt Galizien vergrößert. Das Territorium des GG umfasste 96.000 und ab 1941 145.000 Quadratkilometer. Die gesamte Okkupationsdauer hindurch war Krakau die Hauptstadt des GG, wo der Generalgouverneur Hans Frank in der Wawelburg seinen Sitz hatte. *1

Das Generalgouvernement war ein Gebilde von einer unklaren strukturell-rechtlichen Position. Das Schwanken und die Unklarheit sind wahrscheinlich auf die sich verändernden politischen Konzeptionen in den Regierungskreisen des Dritten Reichs zum weiteren Schicksal dieser Gebiete zurückzuführen, die im großen Maße durch die Situation an den Fronten des II. Weltkrieges beeinflusst wurden. Es gibt keine Zweifel, dass das GG tatsächlich der Hoheit des Deutschen Reichs untergeordnet war. Als ein übergeordnetes Ziel der auf diesem Gebiet verwirklichten gesetzgeberischen Gewalt des Okkupanten galt, die Interessen des Reichs zu schützen. *2

Das Strafrecht soll auf dem Gebiet des GG während des II. Weltkrieges als ein Begriff behandelt werden, der einen vielfältigen Charakter hatte. Im Laufe von kaum einigen Jahren funktionierten auf diesen Territorien mehrere diverse Rechtsordnungen im Bereich des materiellen Strafrechts nebeneinander. Der Besatzer hat sich hier für eine ungewöhnliche Lösung entschieden. Es wurde ein dualistisches Rechtssystem geschaffen. Das Recht des Reichs und die von den deutschen Behörden des GG gesetzten Vorschriften galten als eine Rechtsform und als die andere das in Kraft gelassene polnische Recht, soweit es zu den Interessen der Besatzer nicht im Widerspruch stand. Das Recht der Republik Polen aus den Jahren 1918-1939 war für alle Bürger des polnischen Staats trotz der Okkupation weiterhin geltend und wurde gleichzeitig auch vom sog. Polnischen Untergrundstaat anerkannt. Ergänzend soll hierbei bemerkt werden, dass dieses Recht um die Regelungen erweitert wurde, welche die besonderen Besatzungsverhältnisse berücksichtigen sollten. Bemerkenswert ist gleichfalls, dass sich diese unterschiedlichen Rechtsordnungen häufig überlappt und teilweise sogar miteinander gedeckt haben. Es soll allerdings nicht vergessen werden, dass sie die Rechtssysteme von zwei verfeindeten Staaten waren, die sich deutlich bereits vor dem Kriegsausbruch voneinander unterschieden. Im Laufe der Kriegshandlungen und der Okkupation sollten diese Systeme ganz und gar andersartige Ziele verwirklichen. Am nachdrücklichsten kam es gerade im Bereich des Strafrechts zum Ausdruck, in dem dieselbe Tat von den Justizorganen des einen Staates verfolgt, vom Standpunkt des anderen aber als ein rechtmäßiges oder sogar erwünschtes Verhalten behandelt werden konnte. *3

Der vorliegende Beitrag hat es zum Ziel zu unterstreichen, dass die vom deutschen Okkupanten gegenüber polnischen Bürgern auf dem Gebiet des Generalgouvernements in den Jahren 1939-1945 angewandte Politik der Repressionen und Extermination sich nicht nur auf die Handlungen verschiedener Polizeistrukturen und die Errichtung vom Hitlerdeutschland der Konzentrations- und Vernichtungslager beschränkte. Meines Erachtens wurde auch die Gesetzgebung im Bereich des materiellen Strafrechts zur Methode, die Politik der Repressionen und Extermination vom Okkupanten in die Tat umzusetzen.

Es scheint, dass diese Problematik wegen einer Vielfalt von Regelungen im Bereich des in den vom Dritten Reich besetzten einzelnen Gebieten geltenden materiellen Strafrechts die Staatsform- und Rechtshistoriker in verschiedenen europäischen Staaten interessieren kann.

Aufgrund des Hitler-Erlasses vom 12.10.1939 (in Kraft getreten am 26.10.) gestaltete sich eine dualistische Rechtsform im GG. Die Rechtsordnung aus der Vorkriegszeit wurde im Prinzip aufrechterhalten, jedoch unter dem Vorrang des deutschen Rechts vor der polnischen Gesetzgebung. Im GG sollten diese polnischen Rechtsvorschriften gelten, die sich in keinem Widerspruch zur Verwaltungsübernahme vom Deutschen Reich befanden. *4 In der Praxis hat es sich erwiesen, dass sogar die Funktionäre des Besatzungsapparats sehr viele Zweifel in Bezug auf die Geltungskraft des polnischen Rechts hegten. Diesbezügliche Aufklärung sollte in die Zuständigkeit der Gesetzgebungsabteilung (nachher Gesetzgebungsamt) als eines Organs der Zentralverwaltung des GG fallen. *5

Im Bereich des uns hier interessierenden materiellen Strafrechts wurden manche konkreten Vorschriften des polnischen Rechts durch die im GG eingeführten Rechtsakten aufgehoben. Beispielsweise wurde es expressis verbis in der „Zollstrafverordnung“ vom 24.04.1940 ausgedrückt. „Die widersprechenden Vorschriften des ehemaligen polnischen Steuerstrafrechts vom 3.11.1936 und der ehemaligen polnischen Gesetze über die Zoll-, Verbrauchssteuer- und Monopolgebührenerhebung treten gleichzeitig außer Kraft“. *6 In der Praxis waren im Geltungsbereich des Strafrechts der II. Republik Polen die Okkupationsrealien entscheidend. Jede Strafsache wurde an die deutsche Staatsanwaltschaft verwiesen, von der sie an das Ressort der deutschen Gerichtsbarkeit oder an die offizielle polnische Justiz weitergeleitet wurde. Die Besatzer hielten das eingeschränkte System der polnischen Gerichtsbarkeit aufrecht. Seit dem Anschluss des Distrikts Galizien im Jahre 1943 wurde die amtliche Bezeichnung: nicht-deutsche Gerichtsbarkeit gebraucht. Im Rahmen dieses Systems funktionierten die Stadt-, Bezirks- und Appellationsgerichte, die unter Anwendung des polnischen Vorkriegsrechts ihre Urteile fällten. *7

Die Normativakten der Zentralorgane des Dritten Reichs

Die dominierende Rechtsordnung im GG war das deutsche Recht. Als Rechtsgrundlage für die deutsche Okkupationsgerichtsbarkeit im GG galt der oben genannte Erlass Hitlers vom 12.10.1939. Der Paragraph 5 dieses Erlasses bestimmte nämlich, dass auf den besetzten polnischen Gebieten neue Rechtsvorschriften in Form von Verordnungen vom Ministerrat für die Reichsverteidigung, dem Bevollmächtigten für den Vierjahresplan und dem Generalgouverneur eingeführt werden sollten. *8 Vom Ministerrat für die Reichsverteidigung wurden lediglich einige Verordnungen erlassen, die sich auf die Gebiete des GG bezogen (darunter auch die Normativakten, welche das materielle Strafrecht regelten, z. B. die Passstrafverordnung vom 27. Mai 1942, RGBl I, S. 348-350). Der Bevollmächtigte für den Vierjahresplan erließ nur eine auf dem Gebiet des GG geltende Verordnung. Es soll nicht vergessen werden, dass weiterhin der Kanzler des Deutschen Reichs der wichtigste Gesetzgeber blieb und im Laufe der folgenden Jahre seine Normativakten in großer Menge erschienen. Während der Okkupation wurden für GG auch solche Normativakten in Kraft gesetzt, die von sonstigen Zentralorganen des Dritten Reichs wie Innenminister, Justizminister, Arbeitsminister, Finanzminister, Rüstungsminister, Hauptbevollmächtigter für die Verwaltungsangelegenheiten des Reichs und Hauptbevollmächtigter für Arbeit erlassen wurden. Aufgrund einer Sondervollmacht von Hitler erschien eine vom Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht und Leiter der Parteikanzlei unterzeichnete Verordnung. Im Jahre 1942 erschienen ziemlich viele Bekanntmachungen des Verkehrsreichsministers, die das Distrikt Galizien betrafen. Die von den Zentralorganen des Deutschen Reichs für das Generalgouvernement erlassenen Normativakten beinhalteten öfters eine nachdrückliche Bestimmung betreffend die Geltungskraft auf dem Gebiet des GG und am häufigsten wurden sie parallel in Deutschland und im GG publiziert. Sie wurden im Reichsgesetzblatt beziehungsweise in anderen amtlichen Massenmedien in Deutschland (z. B. im Reichsarbeitsblatt) sowie im Verordnungsblatt für das Generalgouvernement veröffentlicht (darunter auch die Normativakten, welche das materielle Strafrecht regelten, z. B. die Verordnung über die Ausübung der Dienststrafgewalt in den neuen Gebieten vom 3. Januar 1943, RGBl I, S. 1-2). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gesetzgebung der deutschen Zentralorgane gegenüber dem GG jedoch nicht allzu reichlich war und keinen Charakter von einer komplexen, geregelten Konzeption der Rechtssetzung trug. Es soll eher konstatiert werden, dass es Übergangshandlungen waren, die man auf das Gebot der Stunde zurückführen kann. Eindeutig intensiver und komplexer war die gesetzgeberische Tätigkeit der Behörden des GG. *9

Die Normativakten der Organe des Generalgouvernements

Von den durch den Generalgouverneur erlassenen Normativakten sollen Proklamationen, Dekrete und vor allem die am häufigsten angewandten Verordnungen genannt werden. Die Proklamationen hatten einen politisch-propagandistischen Charakter, die Dekrete bezogen sich vor allem auf Staatssystemfragen, wobei die Verordnungen Gesetze ersetzten und das System des geltenden Rechts schaffen sollten (der Generalgouverneur erließ viele Verordnungen, welche die Vorschriften des materiellen Strafrechts beinhalteten. Ich analysiere sie im Nachfolgenden im vorliegenden Beitrag). Bereits seit Beginn der Existenz des GG musste Frank eine starke Position der Polizeibehörden respektieren, das sich auch auf den Bereich der Rechtssetzung beziehen sollte. Im Paket der Rechtsakten vom 26.10.1939 fand sich die Verordnung des Generalgouverneurs, die dem höheren Befehlshaber der SS und der Polizei im GG das Recht einräumte, Verordnungen zu erlassen. Es wurde zwar betont, dass in Angelegenheiten vom grundsätzlichen Belang der höhere Befehlshaber der SS und der Polizei die Einwilligung von Frank erhalten sollte, dagegen durfte er die sonstigen, für die Ordnungshaltung und Sicherheit erforderlichen Verordnungen ganz selbstständig erlassen. Die Polizeiverordnungen, die auf dem Gebiet des ganzen Generalgouvernements gelten sollten, wurden im Verordnungsblatt veröffentlicht. Bei Verordnungen mit der territorial beschränkten Zuständigkeit wurden andere Bekanntmachungsweisen zugelassen. *10 Die Rolle eines amtlichen Mediums erfüllte das „Verordnungsblatt des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete“, das seit dem 31.10.1939 parallel im GG und im Reich herausgegeben wurde. Am 1. September 1940 wurde dieser Name in „Verordnungsblatt für den Generalgouverneur“ geändert.

Zu den wichtigsten Verordnungen, welche die Strafvorschriften enthielten, gehörten die Verordnungen zur Bekämpfung von Gewalttaten vom 31.10.1939, Verordnung über die Sondergerichte vom 15.10.1939, Verordnung über die polnische Gerichtsbarkeit vom 19.02.1940, Verordnung über die deutsche Gerichtsbarkeit vom 19.02.1940, *11 Verordnung über den Waffenbesitz im Generalgouvernement vom 26.11.1941 und die zweite Verordnung zur Bekämpfung von Gewalttaten im Generalgouvernement vom 26.11.1941, ebenso die Verordnung zur Bekämpfung von Angriffen gegen das deutsche Aufbauwerk vom 2.10.1943. *12 Es soll hier unterstrichen werden, dass sich in zahlreichen sonstigen Normativakten als „Strafvorschriften“ betitelte Fragmente befanden.

Das Nebeneinander der deutschen und polnischen Gerichtsbarkeit

Das im Generalgouvernement geltende deutsche Recht unterschied sich deutlich vom Rechtssystem des nationalsozialistischen Dritten Reichs. In der Literatur wurde hervorgehoben, dass das Reichsrecht nicht automatisch im GG in Kraft trat. *13 Die vorstehend erörterten formellen Grundlagen der Rechtssetzung scheinen, diese These zu bekräftigen. Es soll dennoch nicht vergessen werden, dass als ein glaubwürdiger Test der Wirksamkeit eines Rechtssystems nur die Analyse seiner praktischen Anwendung von den Staatsorganen und vor allem von den Gerichten dienen kann. Im GG waren es einerseits die deutsche Gerichtsbarkeit und daneben die nach dem Recht der II. Republik Polen erkennende polnische bzw. nicht-deutsche Gerichtsbarkeit. In der die deutsche Gerichtsbarkeit einführenden Verordnung wurde eindeutig betont, dass sowohl im Bereich der Straf- als auch der Zivilgerichtsbarkeit die Vorschriften des deutschen materiellen sowie des Verfahrensrechts anzuwenden sind. Nach der Bearbeitung der Akten von mehreren Gerichten habe ich festgestellt, dass in der deutschen Gerichtsbarkeit im GG ohne keinerlei Zweifel eine folgende Rangordnung der verschiedenen Rechtsmassen galt: 1. das im GG gesetzte Recht, 2. das Recht des Deutschen Reichs, 3. die für die als GG anderen von den Deutschen besetzten Gebiete eingeführten Akten. *14

Im GG wurden die von der deutschen Staatsanwaltschaft vorgenommenen Verteilungskriterien der Strafsachen zwischen die deutsche und die polnische (nicht-deutsche) Gerichtsbarkeit durch nicht veröffentlichte Rundschreiben des Justizressorts des GG geregelt. In der Praxis wurden die ernsten Strafsachen von der deutschen Gerichtsbarkeit behandelt. Der polnischen Jurisdiktion unterlagen vor allem die geringfügigen Straftaten, die ohne Anwendung von Waffen oder sonstigen gefährlichen Werkzeugen begangen wurden, also Schlägereien, Fälschungen u. dgl. *15 Diese Gerichte fällten ihre Urteile aufgrund des Strafrechts der II. Republik Polen (vor allem das Strafgesetzbuch von 1932).

Wie oben erwähnt, wurde von der deutschen Gerichtsbarkeit das deutsche Recht unter Berücksichtigung der von Nazis in dieser Beziehung durchgesetzten Änderungen sowie der bereits während des Kriegs eingeführten Vorschriften angewandt. *16 Auf dem Gebiet des GG galt hingegen die Verordnung vom 4.12.1941 über die Strafgerichtsbarkeit für die Polen und Juden auf den einverleibten Ostgebieten nicht. *17

Die Verschärfung des Strafrechts im GG

Durch die speziell für das GG errichtete Gesetzgebung wurden neue Lösungen betreffend die Institution der Straftat eingeführt. Ähnlich wie im Dritten Reich wurde der Grundsatz lex retro non agit nicht respektiert, die Gesetze konnten auch gegen das Rückwirkungsverbot angewandt werden.

Um die Rechtsmäßigkeit der Entscheidungen der polnischen Gerichte zu kontrollieren, wurde die Institution des sog. Nachprüfungsrechts eingeführt. Die Ankündigung einer solchen Form der Kontrolle fand sich bereits in der Verordnung über den Aufbau der Rechtspflege vom 26.10.1939 und genau präzisiert wurde sie in der Verordnung über die polnische Gerichtsbarkeit vom 19.02.1940. Die Nachprüfung eines Urteils wurde vom Leiter der Justizabteilung im gegebenen Distrikt beim deutschen Obergericht innerhalb von 6 Monaten ab dessen Rechtskraft beantragt. Als Voraussetzung galt ein Verstoß gegen das öffentliche Interesse. Das deutsche Obergericht konnte die Entscheidung genehmigen oder sie aufheben. Beim letztgenannten Fall sprach es das Urteil selbst oder verwies die Sache an die deutsche Gerichtsbarkeit, und wenn es eine Zivilsache war, erhielt sie das deutsche Gericht, bei einer Strafsache war es das Sondergericht.

Charakteristisch für die Strafrechtslage im GG war die Tatsache, dass das Nachprüfungsrecht rückwirkend in Kraft treten konnte. Sämtliche Urteile der polnischen Gerichte, die nach dem 31. Juli 1938 rechtskräftig wurden, konnten überprüft werden. Von diesem für die Polen sowieso ungünstigen Grundsatz wurde noch eine weitgehende Ausnahme gemacht. Bei besonders relevanten Fällen, wenn die Entscheidung das Interesse der deutschen Nation verletzte, konnte die Entscheidung überprüft werden ohne jegliche Rücksicht auf die Zeit, die seit Datum seiner Rechtskraft verflossen war. Den Entschluss über die Nachprüfung der Entscheidung konnte in derartiger Situation vom Leiter des Justizressorts im GG gefasst werden. *18

Ein fundamentaler Normativakt aus dem Bereich des materiellen Strafrechts war die Verordnung zur Bekämpfung von Gewalttaten vom 31.10.1939. Bereits zu Beginn des Bestehens des GG wurde ein Katalog von Sachverhalten abgesondert, die für die Interessensicherung des Besatzers am wesentlichsten waren. Zu ihnen wurden gezählt:

–   Gewalttaten gegen das Reich und gegen die deutschen Behörden im GG;

– vorsätzliche Beschädigung von Einrichtungen der deutschen Behörden und ihren Arbeitseinrichtungen oder Einrichtungen der Gemeinnützigkeit;

– Aufforderung oder Ermunterung zum Ungehorsam gegenüber Verordnungen oder Anordnungen der deutschen Behörden;

– Gewalttaten gegen die Deutschen wegen ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Nation;

– vorsätzliche Brandstiftung von Vermögen der Deutschen“.

Die Verantwortung trugen ebenfalls die Gehilfen und Anstifter. Strafbar war auch der Versuch von diesen Taten, wobei der Begriff eines Versuchs weit konzipiert wurde. „Wer sich verabredet, eine Straftat zu begehen, wer zu diesem Zweck mit Anderen zu einer Einigung kommt, wer die Verübung einer Straftat anbietet oder ein solches Angebot annimmt“. Die Strafbarkeit bezog sich auch auf Personen, die von der Begehungsabsicht der genannten Straftaten erfahren hatten und davon die Behörden beziehungsweise die gefährdete Person nicht in Kenntnis gesetzt haben. *19

Die Verordnung über den Waffenbesitz vom 12.09.1939, also noch aus der Zeit vor der Gründung des GG, sollte Personen betreffen, die Waffen, Munition, Handgranaten, Sprengstoffe oder sonstige Kriegsausrüstung besaßen. Die Vorschriften jener Verordnung wurden im GG gleichfalls aufrechterhalten und entsprechend erweitert: „Wer eine Nachricht über einen illegalen Waffenbesitz von einer anderen Person erhält und die Benachrichtigung der Behörden darüber unterlässt, unterliegt einer Strafe“. *20

Während der Okkupation konnte die Übertragung der Lösungen im Bereich des materiellen Strafrechts des Dritten Reichs ins GG passieren. Die einfachste Methode waren die Verordnungen von Hitler, die sowohl im Reich wie auch im GG rechtskräftig wurden (sie wurden auch im Verordnungsblatt des Generalgouvernements veröffentlicht). *21 Eine andere Art war die Gesetzgebung des Generalgouverneurs, welche die Rechtsänderungen in Deutschland berücksichtigte. Dies bezieht sich zum Beispiel auf die Einführung der aus dem III. Reich bekannten Konstruktion „eines Gewohnheitstäters“. Die „so streng oder so viel mal verurteilten Verbrecher, dass sie als eine ständige Gefahr für die Allgemeinheit anzusehen sind“, konnten von der polnischen (nicht-deutschen) Gerichtsbarkeit „zur Sicherung festgehalten“ oder von den deutschen Sondergerichten sogar zum Tode verurteilt werden, wenn es aus Rücksicht auf „den Schutz der Allgemeinheit oder das Bedürfnis einer gerechten Vergeltung“ gemacht wurde. In den Realien des GG bedeutete es die Möglichkeit, die fundamentalen Grundsätze der Gesetzmäßigkeit zu brechen, und auch auf diesem Grund die rechtskräftigen Urteile der polnischen Gerichte (sogar diese aus der Vorkriegszeit) anzufechten. *22

Ähnlich wie im Deutschen Reich wurde gegen Ende des Krieges die Verallgemeinerung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für sämtliche Überschreitungen der im GG geltenden Vorschriften eingeführt. Strafbar war aufgrund der Verordnung vom 2.10.1943 die Verletzung von Gesetzen, Verordnungen, Anordnungen und Verfügungen der Behörden mit der Absicht, „das deutsche Aufbauwerk im Generalgouvernement“ zu erschweren oder es zu behindern. Dies galt ebenfalls für den Versuch; die Verantwortung trugen auch die Gehilfen und Anstifter. *23

Im Generalgouvernement wurden sogar einige hundert Normativakten(sie stellten leges speziales im Verhältnis zu dem polnischen und dem deutschen Strafgesetzbuch dar) erlassen, in denen die Handlungen für strafbare Taten erklärt wurden, die unter normalen Umständen außerhalb des Regelungsbereichs des Strafrechts bleiben. Eine weit ausgebaute Pönalisierung betraf solche Gebiete wie Kulturtätigkeit, Arbeit und Vereinsaktivität. *24

Die Definitionen der Sachverhalte wurden oft nach einem konstanten Muster geregelt. Eine Standardformel hatte folgenden Wortlaut: „Wer es unternimmt, den Vorschriften dieser Verordnung zuwiderzuhandeln, wird bestraft“. *25

Darüber hinaus gab es noch eine bequeme Lösung, die darin bestand, dass Sachen aus dem Strafverwaltungsverfahren an das Strafverfahren verwiesen wurden. Am häufigsten wurde folgende Generalklausel angewandt: „a) Die Nichtbefolgung dieser Verordnung wird im Strafverwaltungsverfahren bestraft; b) wenn die Bestrafung im Rahmen dieses Verfahrens nicht ausreichend zu sein scheint, soll die Sache der deutschen klagenden Behörde überlassen werden (seit 1943 wurde der Name: deutsche Staatsanwaltschaft benutzt)“. *26

Die Differenzierung unter den Personenkreisen

Ein charakteristisches Merkmal des materiellen Strafrechts im GG, das jenes von anderen von dem Dritten Reich annektierten Gebieten unterschied, war nicht nur die Aufrechterhaltung des privilegierten Status der Deutschen, sondern auch die Differenzierung der rechtlichen Stellung der Polen und Juden. Seinen Ausdruck fand es in den bereits im Jahre 1939 erlassenen Normativakten. Die für die Juden erlassenen Vorschriften enthielten weiterreichende Gebote und Verbote und sahen deutlich schärfere Sanktionen für ihre Verletzungen vor. Als Beispiel können die Vorschriften über die Einführung der Arbeitspflicht für die polnische Bevölkerung des GG dienen. Für die Juden wurde an demselben Tag eine besondere Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs erlassen, die noch strengere Regelungen enthielt. *27 Im legislativen Wege wurden die Juden der persönlichen Freiheit, des Eigentums, der Freiheit der Berufswahl, des Anspruchs auf die Bildung, der Freiheit der Wohnsitzwahl, der Bewegungsfreiheit, darin der Auslandsreise beraubt. Es wurde sogar das Verbot eingeführt, den Wohnort zu verlassen. *28 Seit Mitte des Jahres 1941 wird die Zahl der ausschließlich für die jüdische Bevölkerung erlassenen Gesetzgebungsakten drastisch reduziert. Möglicherweise ist es auf die steigenden Kompetenzen von Himmler in Bezug auf die geplante Extermination der Juden zurückzuführen. *29

Das polnische Recht im Generalgouvernement

Von den Besatzern aufrechterhaltenes polnisches Recht erfuhr in Bezug auf das System der sich aus dem Strafgesetzbuch von 1932 ergebenden Strafen keine Veränderungen. Die Besatzer haben allerdings die Urteilsfindungsfreiheit der polnischen Richter beschränkt. Es wurden die bisherigen Kompetenzen der polnischen Gerichte beschränkt, weil sie von den Okkupationsbehörden des GG-Justizressorts als Berechtigungen vom Charakter des Gnadenrechts angesehen wurden. Die Behörden des Justizressorts haben erklärt, dass die polnischen Gerichte nicht mehr über das Recht verfügen, auf die Verurteilung zur Bewährung oder bedingte Haftentlassung zu erkennen, weil diese als Gnadenakte zu betrachten waren. Die außerordentliche Strafmilderung wurde jedoch anders behandelt, denn sie wurde als eine Institution betrachtet, die sich aufs Strafmaß und nicht auf das Gnadenrecht bezieht. Bei dem in manchen Fällen dem Gericht zustehenden Rücktrittsrecht von der Strafverhängung trotz des Schuldigsprechens haben sich die Besatzer das Entscheidungsrecht vorbehalten. *30

Das Sanktionensystem

Die im Dritten Reich innerhalb des Strafsystems vorgenommenen Änderungen waren selbstverständlich im Gerichtswesen des GG respektiert. In den im GG eingeführten Strafvorschriften wurde der folgende Katalog der Strafen in Anspruch genommen: Todesstrafe, schwere Gefängnisstrafe, Gefängnisstrafe, Geldstrafe, Strafe der Vermögensbeschlagnahme (sie konnte getrennt oder als Zusatzstrafe verhängt werden). Zu den Zusatzstrafen wurden folgende Strafen gezählt: ständiges oder zeitweise beschränktes Berufsverbot (es betraf die Ärzte), Zwangsarbeit im Walde. Es bestand ebenso die Möglichkeit, auf die Bußzahlung zugunsten des Geschädigten zu verurteilen. Den im Generalgouvernement erlassenen Gesetzgebungsakten lagen die deutschen Lösungen (unter anderem die im polnischen Strafgesetzbuch unbekannte Einteilung in Gefängnisstrafe und schwere Gefängnisstrafe) zugrunde, obwohl für das GG spezifische Tendenzen zu bemerken sind, die sich aus politischen Zwecken der Nazis ergaben, welche die maximale wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten zentralpolnischen Gebiete und die Durchführung auf diesen Gebieten der intensivsten Ausrottung der jüdischen Bevölkerung bedeuteten.

Es soll hervorgehoben werden, dass die Behörden des Dritten Reichs ebenfalls die Konzeption der Ordnungshaltung auf dem Gebiet des GG nur mit Hilfe von polizeilichen Zwangsmaßnahmen erwogen hatten. Für die lokale Bevölkerung hätte dies die absolute Beraubung irgendeines Rechtssystems bedeutet. Vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen wurde diese Konzeption jedoch abgelehnt. Das GG sollte zum Objekt der Ausbeutung seitens des Reichs werden und im Zusammenhang damit wurde die Anwendung von ausschließlich Polizeimaßnahmen als unzulässig anerkannt, weil sie ein normales Funktionieren des wirtschaftlichen Lebens unmöglich gemacht hätten. *31 Die Oberhand gewann die Ansicht, dass die Errichtung eines dualistischen Rechtssystems praktischer wird, das allerdings aufgrund der drastisch strengen Strafrechtsvorschriften Recht sprechen sollte. Die oben erwähnten und in der fundamentalen Verordnung zur Bekämpfung von Gewalttaten vom 31.10.1939 (§ 1-9) genannten Sachverhalte waren mit obligatorischer Todesstrafe bedroht. *32 Vom Umfang einer drakonischen Pönalisierung im GG bezeugt die Tatsache, dass diese Strafe (obligatorisch, oder fakultativ) noch in beinahe 30 im Verordnungsblatt des Generalgouvernements veröffentlichen Normativakten vorgesehen war. In diesen Vorschriften wurden Sachverhalte geregelt, die sogar im Reich mit dem höchsten Strafmaß nicht bedroht waren. *33 Vom wesentlichsten Belang war die oben erwähnte Verordnung zur Bekämpfung von Angriffen gegen das deutsche Aufbauwerk im Generalgouvernement vom 2.10.1943, durch welche die strafrechtliche Verantwortlichkeit für sämtliche Überschreitungen der im Generalgouvernement geltenden Vorschriften ausgedehnt und mit der Todesstrafe bedroht wurde. Das spektakulärste Beispiel betrifft die Verurteilung der Juden zum Tode, wenn sie in die Ghettos nicht übersiedelten oder deren Grenzen verließen. Mehr noch, mit Todesstrafe wurden alle bedroht, die ihnen Zuflucht gewährten, insbesondere wenn sie die Juden außerhalb der Ghettogrenzen unterbrachten, sie fütterten oder versteckten. *34

In keinem der besetzten Länder haben die Deutschen so repressive Vorschriften eingeführt. Die Wirtschaftsinteressen des Besatzers dienten hierbei als Grundlage der Pönalisierung jeglichen Widerstands gegen die Übernahme der Agrarprodukte von den GG-Behörden (und insbesondere der Sabotage von obligatorischen Agrarkontingenten). Die mit der Todesstrafe drohenden Verordnungen wurden im GG dreifach (1942, 1943, 1944) wiederholt, wobei die strafbaren Sachverhalte im Verhältnis zum Muster vom 1942 in den nächsten Jahren bedeutend erweitert wurden. Verlängert wurde ebenfalls die Dauer des Ausnahmezustands für die Übernahme der Agrarprodukte. Im Jahr 1942 war dies für den Zeitraum vom 1.08. bis 30.11. bestimmt; für die Jahre 1943 und 1944 dagegen für denjenigen vom 15.07 bis 20.12.). *35 Als Bestandteil einer maximalen materiellen Ausbeutung der Bevölkerung soll die sehr häufige Bedrohung mit der Geldstrafe in unbeschränkter Höhe (so in über 60 Normativakten) und verschiedenen Beschlagnahmearten (in über 30 Normativakten) genannt werden. *36

Es soll darauf hingewiesen werden, dass Himmler neben dem System des Strafrechts und dem Justizapparat im GG noch die ihm direkt untergeordneten Konzentrations- und Vernichtungslager zur Verfügung hatte. Die Deportation in die Lager gehörte nicht zum Katalog der im Strafrecht vorgesehenen Strafen, aber aus Sicht der Gefangenen konnte sie als eine der empfindlichsten Sanktionen angesehen werden. *37

Das Strafrecht des Polnischen Untergrundstaates

Auf dem Gebiet des Generalgouvernements galten und kamen die Vorschriften des Strafrechts zur Anwendung, die in der Zeit des Funktionierens des Polnischen Untergrundstaates (polnisch: Polskie Państwo Podziemne ) eingeführt wurden. Es ist zu unterstreichen, dass die Bildung und die Tätigkeit des Polnischen Untergrundstaates während des II. Weltkrieges, meiner Meinung nach, ein absolut einmaliges Phänomen in den europäischen Realien der Jahre 1939-1945 war. In keinem der anderen Länder gelang es, einen so allumfassenden und geheimen Staatsapparat zu gestalten). *38 Die Verschwörungsgerichte des Polnischen Untergrundstaates (sowohl Militär- wie auch ordentliche Gerichte) erkannten aufgrund der Vorschriften des in der Republik Polen noch vor dem Ausbruch des II. Weltkrieges geltenden materiellen Strafrechts. Sie wendeten jedoch auch neue Regelungen an, die von den Organen des Polnischen Staates in den Jahren 1939-1945 in Erwiderung der außerordentlichen Kriegs- und Okkupationsrealien eingeführt wurden. Aus Rücksicht auf die Tatsache, dass der Polnische Untergrundstaat nicht nur auf dem Gebiet des GG, sondern auch auf allen vom Dritten Reich annektierten polnischen Gebieten sowie auf den östlich der GG-Grenzen gelegenen Territorien funktionierte, soll diese Problematik in einer separaten Bearbeitung präsentiert werden. *39

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