Search Menu

JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

Issues list

Issues

Public Administration and Law

21/2014
ISBN 978-9985-870-33-4

Cover image
Download

Issue

Zur Europäisierung des Verwaltungsrechts

Die Europäisierung des Verwaltungsrechts ist ein fortschreitender, nicht endender Prozess. Betroffen sind Kernmaterien der innerstaatlichen Rechtsordnung wie etwa das Allgemeine Verwaltungsrecht, das Verwaltungsverfahrensrecht und das Verwaltungsprozessrecht. Der Beitrag analysiert die Einwirkungen des supranationalen Unionsrechts auf jene Rechtsgebiete und weist nach, dass das systematisch angelegte deutsche Verwaltungsrecht und die gut strukturierte Rechtsdogmatik in der Lage sind, die Europäisierung der innerstaatlichen Rechtsordnung zu bewältigen. Dabei zeigt sich, dass das Europarecht nicht nur Herausforderungen für das nationale Recht und das überkommene Rechtsdenken bereithält, sondern auch Impulse für die Modernisierung des deutschen Verwaltungsrechts setzt.

Keywords:

Subjektives öffentliches Recht; vorläufiger Rechtsschutz; Klagebefugnis; Verwaltungsverfahren; Staatshaftungsrecht; Rücknahme von Verwaltungsakten

I. Einführung in die Thematik

Die „Determinanten der modernen Staatsverwaltung” – so die Thematik des V. Abschnitts unseres Tagungsthemas „Anfänge der modernen Staatsverwaltung” – müssen die europäische Perspektive einbeziehen, wollen sie nicht defizitär sein. Aus juristischer Sicht zwingt dies zu einer Analyse der Europäisierung der innerstaatlichen Rechtsordnung. Treffend ist dieser (noch lange nicht abgeschlossene) Prozess  *1 als ein „Fundamentalvorgang” charakterisiert worden: die Verwandlung einer autonomen Rechtsordnung in die Rechtsordnung eines Mitgliedstaates.  *2

1. Omnipräsenz des Unionsrechts

Dieser Vorgang ist umfassend angelegt. Er umgreift nicht nur einzelne Rechtsgebiete (z.B. Wettbewerbsrecht, Verbraucherschutzrecht, Umweltrecht), sondern die gesamte Rechtsordnung (Zivilrecht, Staats- und Verwaltungsrecht, Strafrecht).  *3 Die Europäisierung der innerstaatlichen Rechtsordnung erfasst zudem alle Dimensionen des Rechts: Rechtsetzung und Rechtsanwendung sind angesprochen, Gesetzgebung sowie Verwaltung und Rechtsprechung sind betroffen, Inhalte des Rechts und Methoden des Rechts werden herausgefordert, das Recht als Instrument und das Recht in seinem Selbststand (gegenüber der Politik) werden aufgerufen, unterschiedliche Rationalitäten im Rechtsverständnis prallen aufeinander.  *4

In der Sache konzentrieren sich die nachfolgenden Überlegungen auf das Allgemeine Verwaltungsrecht sowie auf das Verwaltungsverfahrensrecht und das Verwaltungsprozessrecht. Auf diesen Rechtsgebieten lassen sich signifikante Europäisierungsmuster nachweisen und bemerkenswerte Eigenrationalitäten des EU-Rechts aufzeigen. Der Zugriff auf die erwähnten Materien dient zugleich der Begrenzung des Rechtsstoffes und erleichtert die Verständigung, da Spezifika des Besonderen Verwaltungsrechts  *5 ausgeblendet bleiben.

2. Begriff und Funktion der „Europäisierung”

Der Begriff „Europäisierung” des Rechts wird hier in einem engen Sinne  *6 verstanden und meint den Prozess fortschreitender Beeinflussung, Wandlung und Überformung eines Rechtsgebietes durch die Rechtsmassen des EU-Rechts und durch das in ihnen wirksame Rechtsdenken.  *7 Unberücksichtigt bleibt das Recht der EMRK. Keine Beachtung finden auch die ebenenübergreifenden Verwaltungsstrukturen zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Verwaltungsbehörden, wie sie etwa in der gegenseitigen Anerkennung von Verwaltungsentscheidungen und dem Handeln der Europäischen Agenturen zum Ausdruck kommen.  *8

Die Konzentration auf die vertikale Perspektive zwischen EU-Recht und mitgliedstaatlichem Recht ist verschiedentlich als zu eng kritisiert worden. Der Begriff „Europäisierung” müsse auch auf die Rechtsbildungsprozesse im Unionsrecht erstreckt werden, damit die Einflüsse aus dem mitgliedstaatlichen Recht in das werdende EU-Recht nicht länger ausgeblendet bleiben.  *9 In der Sache muss diesem erweiterten Begriffsverständnis nicht widersprochen werden. Der juristische Wert der auf die Überformung des nationalen Verwaltungsrechts durch das Unionsrecht gerichteten Betrachtungsweise wird, wie zu zeigen sein wird, durch jenes extensive Begriffsverständnis in keiner Weise geschmälert.

Der hier gewählte Problemzugang findet eine sichere Verankerung im positiven Recht. Der Grundsatz des indirekten Vollzugs von EU-Recht ist mit dem Vertrag von Lissabon im primären Unionsrecht festgeschrieben worden  *10 und besagt, dass mitgliedstaatliche Behörden das Unionsrecht nach Maßgabe des innerstaatlichen Verwaltungs(verfahrens)rechts zur Anwendung bringen.  *11 Im Rechtsschutzverfahren obliegt die Verwaltungskontrolle dem nationalen Richter, der als „Unionsrichter” fungiert.  *12

Grundlage dieses Konzepts ist die Verfahrensautonomie der EU-Mitgliedstaaten. Die Europäische Union hat, dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verpflichtet (Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 EUV), für das Allgemeine Verwaltungsrecht, das Verwaltungsverfahrensrecht und das Verwaltungsprozessrecht keine generelle Regelungskompetenz. Die Vollzugs- und Kontrollinstrumente in Bezug auf das EU-Recht sind dem innerstaatlichen Recht zu entnehmen. Gesprochen wird seit jeher von der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten.  *13

Bei einem solchen Modell sind die Risiken für die einheitliche reale Geltung des Unionsrechts geradezu systemimmanent. Der der Wahrung des Rechts (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV) verpflichtete Europäische Gerichtshof (EuGH) hat indessen nie einen Zweifel daran gelassen, dass die einheitliche Anwendung des Unionsrechts ein Grundprinzip der Europäischen Union darstellt.  *14 Hierin findet die „Europäisierung” der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gleichsam ihre Legitimität.

3. Mechanismen und Eigenrationalitäten des EU-Rechts

Bevor den Rechtswirkungen der Europäisierung in der innerstaatlichen Rechtsordnung nachgegangen wird, lohnt ein Blick auf allgemeine Mechanismen und Eigenrationalitäten des EU-Rechts, die den Prozess der „Europäisierung” entfachen und beschleunigen. Grundlage der Analyse ist die Anerkennung der supranationalen Qualität des Unionsrechts,  *15 das sich insoweit kategorial (und nicht nur graduell) vom überkommenen Völkerrecht unterscheidet.

Vor diesem Hintergrund haben sich die folgenden – nicht abschließend zu verstehenden – fünf Dogmen als besonders wirkungsvoll erwiesen:

−     Der (grundsätzliche) Vorrang des EU-Rechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten  *16 wirkt als Anwendungsvorrang  *17 (nicht als Geltungsvorrang). Im Konfliktfall darf kollidierendes innerstaatliches Recht nicht angewendet werden.  *18

−     Die unionsrechtskonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts ist eine längst anerkannte Interpretationsmethode, die den schonenden Ausgleich zwischen der supranationalen und der innerstaatlichen Rechtsordnung herstellt.  *19 Am geläufigsten ist der Unterfall der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts.  *20

−     Die unmittelbare Wirkung (unmittelbare Anwendung) von Normen des Unionsrechts im innerstaatlichen Rechtskreis gehört auch jenseits der Grundfreiheiten mittlerweile zu den juristischen Selbstverständlichkeiten. Dazu zählt insbesondere die vom Gerichtshof gegen das positive Recht (Art. 288 Abs. 3 AEUV, zuvor Art. 249 Abs. 3 EGV) durchgesetzte unmittelbare Wirkung von (an die Mitgliedstaaten adressierten) Richtlinien.  *21

−     Der Äquivalenzgrundsatz und der Effektivitätsgrundsatz setzen der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten in den von der Europäischen Union mangels Rechtsetzungskompetenz nicht geregelten Bereichen Grenzen.  *22 Ein geradezu unerschöpflicher „Speicher” für unendlich viele Deduktionen ist der Effektivitätsgrundsatz, wonach mitgliedstaatliche Verfahren die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen.  *23

−     Die vom Gerichtshof seit einiger Zeit postulierte Kohärenz im europäischen Rechts(schutz)system  *24 setzt dem vertragsrechtlichen Gebot der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV) die richterrechtliche Neigung zur Unitarisierung weiter Teile der innerstaatlichen Rechtsordnung entgegen.  *25

 

Die skizzierten Mechanismen und Eigenrationalitäten des EU-Rechts, die sämtlich im Dienste der „Europäisierung” stehen, müssen als allgemeine, „vor die Klammer gezogene” Struktursicherungen verstanden werden, die auf jedem Rechtsgebiet Anwendung finden können. Die fassbaren Ergebnisse der „Europäisierung” der innerstaatlichen Rechtsordnung entstehen demnach durch eine juristische Interpretationsleistung, die strukturelle Vorgaben des EU-Rechts mit der inhaltlichen Ausrichtung nationaler Rechtsnormen auf das Unionsrecht verknüpft.

II. Allgemeines Verwaltungsrecht

Die Funktionslogik des EU-Rechts in bestimmten Anwendungsfeldern kann zunächst im (materiellen) Allgemeinen Verwaltungsrecht aufgezeigt werden.  *26 Für dieses Rechtsgebiet (als solches) hat die Europäische Union nach der geltenden Zuständigkeitsordnung keine Regelungskompetenz. Gleichwohl belegen die folgenden drei ausgewählten Beispiele die Eindringtiefe der supranationalen Rechtsordnung in den innerstaatlichen Rechtskreis.

1. Subjektives öffentliches Recht

Die Rechtsstellung des Einzelnen im Gemeinwesen wird maßgeblich durch das subjektive öffentliche Recht konstituiert. Herausragend sind insoweit die Grundrechte des nationalen Verfassungsrechts, die Grundfreiheiten des primären EU-Rechts und die Grundrechte der seit Dezember 2009 in Kraft befindlichen Europäischen Grundrechte-Charta. Im Alltag der Verwaltung dominieren indessen die subjektiven öffentlichen Rechte des Gesetzesrechts.

a) Herkömmliches deutsches Konzept

Gewonnen werden diese Rechte nach überkommener deutscher Rechtsauffassung anhand der Schutznormtheorie.  *27 Danach ist zu erforschen, ob eine Rechtsnorm (neben ihrer objektiv-rechtlichen Zwecksetzung) zumindest auch dem Schutz von Individualinteressen zu dienen bestimmt ist und dem Träger des Individualinteresses die Rechtsmacht einräumt, von dem Normverpflichteten die Einhaltung der Rechtsnorm verlangen zu können.  *28 In dem Kanon von Methoden und Regeln zur Erschließung des individualschützenden Gehalts einer Norm  *29 verfügt der Richter (als Letztinterpret) über nicht unerhebliche Auslegungsspielräume. Das Ergebnis bestimmter Rechtsprechungsentwicklungen in Deutschland ist frappierend: Während z.B. der Nachbarschutz im Baurecht sukzessive ausgebaut worden ist, fristet der Konkurrentenschutz im Wirtschaftsverwaltungsrecht ein eher kümmerliches Dasein.  *30 In Verbundbegriffen zusammengefasste aggregierte Individualinteressen (z. B. „Verbraucherschutz”) finden nach überkommener Doktrin keine subjektivrechtliche Anerkennung.  *31

b) Funktionale Subjektivierung nach Europarecht

Die Funktionslogik des EU-Rechts folgt im vorliegenden Zusammenhang dem Konzept der funktionalen Subjektivierung; der Einzelne wird in den Dienst einer wirksamen Durchsetzung des Unionsrechts gestellt und damit in die dezentrale Vollzugskontrolle einbezogen.  *32 Individuelle Rechte werden bereits dann anerkannt, wenn und soweit eine Rechtsnorm auf die Verleihung von Rechten an den Einzelnen zielt.  *33 Damit lehnt auch das Europarecht einen allgemeinen Normvollziehungsanspruch ab und rezipiert die Schutznormtheorie als Strukturmodell für die Unterscheidung zwischen individuellen Berechtigungen und Allgemeininteressen.  *34 Inhaltlich erfolgt jedoch eine Ausweitung sowohl in Bezug auf den Schutzgegenstand als auch auf den geschützten Personenkreis, indem die normative Bündelung von Einzelinteressen die individuelle Berechtigung nicht entfallen lässt.

So genügt im Umweltrecht der Schutz der „Volksgesundheit” bzw. „öffentlichen Gesundheit” für die Bejahung der individualschützenden Wirkung einer Rechtsnorm,  *35 im Verbraucherschutzrecht werden individuelle Rechte bereits anerkannt, wenn der Rechtsakt auf den Schutz der „Verbraucher(schaft)” zielt.  *36 Die aktuelle rechtswissenschaftliche Diskussion rankt – bei Anerkennung der funktionalen Subjektivierung – darum, ob der Schutz personaler Rechtsgüter Voraussetzung für die individualschützende Wirkung einer Rechtsnorm ist  *37 oder ob eine Erweiterung der Schutznormtheorie angezeigt ist, die auch die Ermächtigung zur individuellen Durchsetzung öffentlicher Interessen umfasst.  *38 Die praktischen Konsequenzen der Europäisierung des subjektiven öffentlichen Rechts zeigen sich vor allem auf dem Gebiet des Verwaltungsprozessrechts im Rahmen der Klagebefugnis.

2. Rücknahme von Verwaltungsakten

Als Handlungsform der Verwaltung kommt dem Verwaltungsakt im Verhältnis des Staates zum Einzelnen eine wichtige stabilisierende Wirkung zu. Im Falle der Bestandskraft ist der Verwaltungsakt die Grundlage für den Vertrauensschutz des Individuums in die Beständigkeit der staatlichen Entscheidung. Beim begünstigenden, aber rechtswidrigen Geldleistungsbescheid kollidieren der Vertrauensschutz des Begünstigten und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Nach deutschem Recht ist die zuständige Behörde an der Rücknahme des Verwaltungsakts gehindert, wenn sich der Vertrauensschutz unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen (§ 48 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, Abs. 4 VwVfG) durchsetzt.

a) Wettbewerbsrecht versus Vertrauensschutz

Im Falle europarechtswidriger staatlicher Beihilfen (Subventionen), insbesondere wegen Verstoßes gegen Art. 108 Abs. 2 und 3 AEUV (zuvor Art. 88 Abs. 2 und 3 EGV), erfolgen die Rücknahme des Bewilligungsbescheids und die Rückforderung der Geldleistung mangels europarechtlicher Befugnisnormen nach nationalem Recht. Zu beachten ist indes das europarechtliche Effektivitätsgebot. Auf dieser Grundlage hat das nationale Recht (§§ 48, 49a VwVfG) durch die Rechtsprechung des EuGH eine komplette supranationale Durchdringung erfahren:  *39

−     Die nach deutschem Recht bestehende gesetzliche Vermutung für den Vertrauensschutz nach dem Verbrauch der gewährten Leistung durch den Begünstigten (§ 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG) wird durch das Europarecht widerlegt.

−     Die Jahresfrist für die Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsakts (§ 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG) wird durch das supranationale Recht derogiert, weil andernfalls die Rückforderung der Beihilfe (Subvention) praktisch unmöglich werden könnte.

−     Das Rücknahmeermessen der Behörde (§ 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG) wird europarechtlich nicht anerkannt, weil bei einer Ermessensbetätigung zu Gunsten des Begünstigten der Rechtsgrund für die erlangte Geldleistung bestehen bliebe und ein staatlicher Rückforderungsanspruch daher nicht durchsetzbar wäre.

−     Nach erfolgter Rücknahme des Bewilligungsbescheids ist gegenüber dem Rückforderungsanspruch des Staates der Entreicherungseinwand des Begünstigten (§ 49a Abs. 2 VwVfG) europarechtlich abgeschnitten.

b) Instrumentelle Funktion des nationalen Verwaltungsrechts

Im Ergebnis führen die Einwirkungen des Unionsrechts auf das nationale Recht zu einer Denaturierung der §§ 48, 49a VwVfG.  *40 Das innerstaatliche (deutsche) Recht hat seinen Eigenwert verloren und steht nur noch in der Pflicht, die unionsrechtlichen Vorgaben zu vollziehen.  *41 An diesem Effekt der „Europäisierung” hat sich auch nach Erlass der europäischen Beihilfeverordnung  *42 nichts geändert.  *43 Schon zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt muss sich das Unionsrecht mit dem Ziel einer Rückforderung rechtswidriger staatlicher Beihilfen durchsetzen.  *44 Das BVerwG hat die Judikatur des EuGH rezipiert.  *45 Das BVerfG hat festgestellt, die Vorgaben des Europarechts verstießen nicht gegen innerstaatliche Grundsätze des Vertrauensschutzes.  *46 Vertrauensschutz gegenüber der Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte und der Rückforderung von zu Unrecht gewährten öffentlichen Geldleistungen findet nurmehr nach Maßgabe europarechtlicher Standards („Gutgläubigkeit” des Begünstigten) statt.  *47

3. Staatshaftung

a) Haftungsgrundlagen im deutschen Recht

Nach deutschem Rechtsverständnis ist die Staatshaftung dem Allgemeinen Verwaltungsrecht zuzuordnen.  *48 Den Kern des Staatshaftungsrechts bildet seit über 100 Jahren die Amtshaftung;  *49 danach hat der Staat (bzw. eine seiner Untergliederungen) den einem Dritten entstandenen Schaden zu ersetzen,  *50 wenn dieser Schaden auf einer schuldhaften Verletzung einer dem Dritten gegenüber bestehenden Amtspflicht durch einen Beamten (bzw. sonstigen öffentlichen Bediensteten) beruht.  *51

Ergänzt wird die Amtshaftung insbesondere durch die Haftungsinstitute des enteignungsgleichen Eingriffs und des enteignenden Eingriffs.  *52 Gehaftet wird danach für den rechtswidrigen bzw. rechtmäßigen hoheitlichen Eingriff in eine eigentumsrechtlich geschützte (Vermögens-)Position des Geschädigten (mit der Folge eines „Sonderopfers” für die Allgemeinheit); Verschulden ist nicht erforderlich, zu leisten ist allerdings nur eine Entschädigung (und nicht der volle Schadenersatz).  *53

b) Indienststellung der Staatshaftung für die Durchsetzung des Unionsrechts

Dieser „Sekundärrechtsschutz” hat bei Verstößen eines EU-Mitgliedstaates gegen das Unionsrecht eine vollständige europarechtliche Überformung erfahren. In ständiger Rechtsprechung hebt der Gerichtshof hervor, dass ein europarechtlicher Grundsatz der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, dem System der Unionsverträge innewohne und die Staatshaftung unter folgenden Voraussetzungen auslöse:  *54

(1)  Die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt die Verleihung von Rechten an den Geschädigten.

(2)  Der Verstoß gegen diese Norm ist hinreichend qualifiziert.  *55

(3)  Zwischen diesem Rechtsverstoß und dem dem Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang.

 

Die Anwendung dieser Voraussetzungen für die Staatshaftung obliegt den nationalen Gerichten.  *56

Entwicklungsgeschichtlich stellt die richterrechtliche Kreation eines europarechtlichen Staatshaftungsanspruchs eine Reaktion auf die unterbleibende bzw. unzureichende oder verspätete Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten dar; der Haftungsanspruch zielt danach auf die Sicherstellung der Wirksamkeit des Unionsrechts.  *57 Außerdem stellt der Gerichtshof mit seiner Rechtsschöpfung eine Kohärenz des Sekundärrechtsschutzes mit der außervertraglichen Haftung der Europäischen Union  *58 her.  *59 Bemerkenswert sind etliche „punktgenaue” Vorgaben des Gerichtshofs, die aus deutscher Sicht einige Voraussetzungen der Staatshaftung gleichsam außer Kraft setzen:

−     Eine Staatshaftung besteht entgegen der deutschen Rechtstradition auch für legislatives Unrecht.  *60

−     Gehaftet wird ebenfalls für Verstöße der rechtsprechenden Gewalt gegen das Unionsrecht;  *61 ein „Richterprivileg”  *62 gibt es nicht.

−     Verschulden ist bei der Staatshaftung wegen Missachtung des EU-Rechts keine Haftungsvoraussetzung.  *63

−     Die Ersatzpflicht des Staates hängt nicht von der Verletzung eines bestimmten Rechtsguts (Eigentum) ab.  *64

−     Zu dem ersatzfähigen Schaden gehört auch der entgangene Gewinn.  *65

 

Die „Europäisierung” weist dem nationalen Staatshaftungsrecht eine primär instrumentelle Funktion zu; es verliert seinen Eigenwert und dient in erster Linie der Durchsetzung der unionsrechtlich begründeten Haftung des Mitgliedstaates im Falle schadensverursachender EU-Rechtsverstöße.  *66

III. Verwaltungsverfahrensrecht

Zur Europäisierung des Verwaltungsrechts darf das Verwaltungsverfahrensrecht nicht ausgeblendet bleiben. Auch wenn sich allzu pauschale und holzschnittartige Darstellungen verbieten,  *67 können ausgewählte Bereiche doch die unterschiedlichen Rationalitäten des deutschen Rechts und des Unionsrechts verdeutlichen.

1. Der Verfahrensgedanke im Verwaltungsrecht

Ausgangspunkt der Überlegungen ist der unterschiedliche Stellenwert, der dem verfahrensrechtlichen Denken in den beiden Rechtsordnungen beigemessen wird. Dabei handelt es sich keineswegs nur um rechtswissenschaftliche Zuschreibungen; entscheidende Prägungen gehen von der Rechtsprechung aus.  *68

a) „Dienende Funktion” des Verwaltungsverfahrens im deutschen Recht

Nach vorherrschendem deutschem Rechtsverständnis ist das Verwaltungsrecht primär materiellrechtlich ausgerichtet. Dem Verwaltungsverfahrensrecht wird demgegenüber eine nachrangige Bedeutung zuerkannt.  *69 Ausdrücklich spricht die Rechtsprechung davon, das Verwaltungsverfahren nehme im Verhältnis zum materiellen Verwaltungsrecht eine „dienende Funktion” wahr.  *70 Das Verwaltungsverfahren(srecht) fungiert in erster Linie als Verwirklichungsmodus des materiellen Rechts.  *71 Die Idee der inhaltlichen Richtigkeitsgewähr – auch – durch ein ordnungsgemäß durchgeführtes Verwaltungsverfahren tritt zurück.  *72 Das Verfahren ist danach von begrenztem Wert.  *73

Dieses Denken findet in Deutschland im positiven Recht einen signifikanten Niederschlag:

−     Behördliche Verfahrenshandlungen sind grundsätzlich gerichtlich nicht angreifbar; Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen können nur gleichzeitig mit den gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelfen geltend gemacht werden, es sei denn, behördliche Verfahrenshandlungen können vollstreckt werden oder ergehen gegen einen Nichtbeteiligten.  *74

−     Verfahrensfehler, die nicht zur Nichtigkeit der Verwaltungsentscheidung führen, können geheilt werden; die dafür notwendigen Handlungen kann die Behörde auch noch während eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz nachholen.  *75

−     Eine Verletzung von Verfahrensvorschriften ist im Ergebnis unbeachtlich, wenn offensichtlich ist, dass der Rechtsverstoß die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.  *76

 

Diese drei Beispiele aus dem positiven Recht verdeutlichen, dass das deutsche Verwaltungsrecht die Ergebnisrichtigkeit in der Sache anstrebt und der Verfahrensrichtigkeit in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle zuweist.

b) Eigenwert des Verwaltungsverfahrens im Unionsrecht

In europarechtlicher Perspektive ist dem Verwaltungsverfahren(srecht) eine eigenständige Funktion zugewiesen. Gleichberechtigt werden zwei Funktionen erfüllt; das Verfahren dient der Verwaltung als Instrument der Rechtsverwirklichung und zugleich als Schutz der Rechte des Einzelnen, es hat demnach auch einen Eigenwert.  *77

Das bedeutet nicht, dass dem Unionsverwaltungsrecht die Heilung oder die Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern prinzipiell fremd wäre.  *78 Aber die Voraussetzungen sind andere als im deutschen Verwaltungsrecht. So kommt z. B. die Fehlerheilung nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens grundsätzlich nicht in Betracht.  *79 Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass nach Beginn des gerichtlichen Verfahrens nicht mehr alle Optionen im Sinne einer realen Fehlerheilung seitens der Verwaltung bestehen.  *80 Sogar im zweitinstanzlichen Verwaltungsverfahren macht der Gerichtshof die Heilung eines Verfahrensfehlers davon abhängig, dass alle Optionen offen sind und die Heilung in diesem Verfahrensstadium noch eine im Hinblick auf den Ausgang des Verfahrens effektive Nachholung der unterbliebenen Verfahrenshandlung ermöglicht.  *81 Bei Sachverhalten mit Bezug zum Unionsrecht bedarf das deutsche Recht (§ 45 Abs. 2 VwVfG) danach einer partiellen Korrektur.  *82

2. Verfahrensrechtliche Stellung des Einzelnen

a) Abhängigkeit des deutschen Verfahrensrechts vom materiellen Recht

Die „dienende Funktion” des Verwaltungsverfahrens bleibt nach deutschem Verständnis nicht ohne Konsequenzen für die Rechtsstellung des Einzelnen. Da das Verwaltungsverfahrensrecht auf die Hervorbringung rechtmäßiger (und zweckmäßiger) Verwaltungsentscheidungen ausgerichtet ist,  *83 begründen individuelle Verfahrensrechte in Bezug auf die Sachentscheidung der Verwaltung keinen subjektiven Schutz. Wendet sich ein von der Sachentscheidung Betroffener mit Verfahrensrügen gegen die Verwaltungsentscheidung, ist er nur dann rechtlich geschützt, wenn sich der Verfahrensrechtsverstoß auf die materiellrechtliche Position des Betroffenen ausgewirkt hat.  *84

b) Selbstständige Verfahrensrechte im Unionsrecht

Das Unionsrecht statuiert demgegenüber selbstständige Verfahrenspositionen. Das Verwaltungsverfahrensrecht dient nicht nur der Verwirklichung des materiellen Rechts, es bietet auch eine Gewähr für die Richtigkeit der Verwaltungsentscheidung.  *85 Dieser Ansatz kann Konsequenzen für die selbstständige Durchsetzung des Verwaltungsverfahrensrechts haben. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Einklagen der Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten (Groß-)Projekten.  *86 Vereinzelt sind deutsche Gerichte diesem Ansatz gefolgt.  *87 Nach wie vor handelt es sich dabei aber um eine seltene Ausnahme vom überkommenen deutschen Konzept. Hier besteht Potential für die Europäisierung des deutschen Verwaltungsverfahrensrechts.

3. Verfahrensfehlerfolgen

Tritt keine Heilung eines Verfahrensfehlers ein, stellt sich die Frage nach den Fehlerfolgen. Allgemein  *88 entspricht es europäischen Standards, dass ein Verfahrensrechtsverstoß für unbeachtlich erklärt werden kann, wenn auszuschließen ist, dass sich der Fehler auf die behördliche Sachentscheidung ausgewirkt hat.  *89 Entscheidend sind die Voraussetzungen für den Eintritt dieser Rechtsfolge.

a) Nachweis der konkreten Kausalität im deutschen Recht

Für den rechtlich relevanten Einfluss eines Verfahrensfehlers auf die Sachentscheidung ist nach deutschem Allgemeinen Verwaltungsrecht ein Kausalzusammenhang erforderlich (§ 46 VwVfG  *90 ). Besondere Bedeutung hat die Thematik im Umwelt- und Planungsrecht erlangt. Von der Rechtsprechung wird der Kausalzusammenhang bejaht, wenn nach den Umständen des Einzelfalls die konkrete Möglichkeit besteht, dass z.B. eine angegriffene Planungsentscheidung (ein Planfeststellungsbeschluss) ohne den Verfahrensfehler für den Betroffenen (den Kläger) günstiger ausgefallen wäre.  *91 Wird der Kausalzusammenhang verneint, bleibt der Verfahrensfehler – falls nicht (ausnahmsweise) ein absolutes Verfahrensrecht  *92 verletzt worden ist – rechtlich folgenlos.

Bei rechtsdogmatischer Beurteilung dieser Konzeption kann ein Verfahrensfehler immer dann Einfluss auf die Sachentscheidung nehmen, wenn die Behörde über Entscheidungsspielräume verfügt (Ermessen, Beurteilungsspielraum, planerische Gestaltung). Muss dagegen auf der Grundlage einer gesetzlich gebundenen Verwaltungsentscheidung angenommen werden, auch ohne den Verfahrensfehler wäre in der Sache nicht anders entschieden worden, bleibt der Verfahrensrechtsverstoß unbeachtlich. In Deutschland wird dieses Ergebnis nun allerdings auch bei der Existenz behördlicher Entscheidungsspielräume erzielt,  *93 weil nach der Judikatur der Betroffene (Kläger) nachweisen muss, dass ohne den Verfahrensfehler die behördliche Sachentscheidung anders ausgefallen wäre.  *94 Dieser Nachweis gelingt in der Praxis nur selten.  *95

b) Erheblichkeit wesentlicher Verfahrensfehler nach Unionsrecht

Findet ein individuelles Recht im Verwaltungsverfahren seine Begründung im EU-Recht, läuft jenes Recht nach der deutschen Konzeption weitgehend leer, was mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot kaum vereinbar ist. Der im Schrifttum unterbreitete Vorschlag, dem Schutz Betroffener dienende wesentliche Verfahrensrechtspositionen des Unionsrechts als nicht relativierbare „absolute Rechte”, deren Verletzung immer beachtlich ist, zu deuten,  *96 wird von der Rechtsprechung unter Hinweis auf die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten abgelehnt.  *97 Am Beispiel der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zeigt sich jedoch, dass die deutsche Judikatur kaum durchzuhalten ist. Denn individuelle Verfahrensrechte nach der UVP-Richtlinie  *98 verlangen eine effektive Durchsetzung im innerstaatlichen Recht.  *99

In einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland hat die EU-Kommission in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme die Praxis der deutschen Gerichte zur Relativierung des Verwaltungsverfahrensrechts gerügt: Werde die Beweislast für die Kausalität eines Verfahrensfehlers in Bezug auf die behördliche Sachentscheidung dem Betroffenen (Kläger) auferlegt, stelle dies eine Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Zugang zu einer gerichtlichen Überprüfung von behördlichen UVP-Entscheidungen dar. Bei einem erheblichen Verfahrensfehler (z.B. Verstoß gegen Informations- und Beteiligungsrechte der Öffentlichkeit) müsse das nationale Recht die Aufhebung der Verwaltungsentscheidung vorsehen, ohne dass der Betroffene (Kläger) einen Kausalzusammenhang mit dem Ergebnis der Verwaltungsentscheidung zu beweisen habe.  *100

Eine rechtliche Klärung in diesem Punkt kann auch ein vom Bundesverwaltungsgericht in Gang gesetztes Vorabentscheidungsverfahren  *101 bringen. In seinem Schlussantrag betont der Generalanwalt, dass bei der Anwendung des Kausalitätskriteriums (im Rahmen des § 46 VwVfG) das Effektivitätsprinzip zu beachten sei; für besonders wichtige Verfahrensvorschriften (nach der UVP-Richtlinie) müsse auf das Erfordernis der Kausalität für das Ergebnis des Verwaltungsverfahrens (d.h. die behördliche Sachentscheidung) vollständig verzichtet werden.  *102 Der Gerichtshof hat nun entscheiden, dass eine zwar durchgeführte, aber mit erheblichen Fehlern versehene Umweltverträglichkeitsprüfung vom innerstaatlichen Verwaltungsverfahrensrecht nicht generell sanktionslos gestellt werden kann; ein solcher Automatismus ist unionsrechtswidrig.  *103

IV. Verwaltungsprozessrecht

In einem dritten Untersuchungsfeld soll, wenn auch nur kurz, auf die Europäisierung im Verwaltungsprozessrecht eingegangen werden.  *104 Zur Illustration des Befundes werden drei Komplexe herangezogen, die beispielhaft die besonders intensive Einwirkung des Unionsrechts auf das gerichtliche Verfahrensrecht veranschaulichen.

1. Klagebefugnis

Der individuelle Zugang zum verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz und damit zur Kontrolle der Verwaltung durch die Judikatur wird in erster Linie durch die Klagebefugnis markiert. Dazu kennt das deutsche Verwaltungsprozessrecht die individuelle Klageberechtigung und den entsubjektivierten Verwaltungsrechtsschutz in Gestalt der Verbandsklage (§ 42 Abs. 2 VwGO  *105 ).

a) Individuelle Klageberechtigung

Der Individualrechtsschutz erfolgt in Deutschland nach Maßgabe des subjektiven öffentlichen Rechts. Das Verwaltungsprozessrecht knüpft in diesem Punkt an das Allgemeine Verwaltungsrecht an.  *106 Es gilt die Schutznormtheorie. Anerkannt ist weder die Popularklage noch die Interessentenklage. Klagebefugt ist im Verwaltungsprozess nur, wer geltend machen kann, durch die von ihm angefochtene staatliche Maßnahme bzw. durch die behördliche Ablehnung oder Unterlassung der beantragten Maßnahme in eigenen Rechten verletzt zu sein.  *107

In diesem System findet die skizzierte funktionale Subjektivierung nach Maßgabe des Unionsrechts  *108 ihren vollständigen Niederschlag im innerstaatlichen deutschen Verwaltungsprozessrecht: Individuelle Klagerechte werden anerkannt, soweit eine Rechtsnorm auf die Verleihung von Rechten an den Einzelnen zielt. Dabei werden, wie gesehen, aggregierte Interessen Privater nicht entsubjektiviert, sie bleiben individuell einklagbar. Klageberechtigt ist jede Person, die Träger des personalen Schutzguts ist und durch das mit der Klage bekämpfte behördliche Verhalten nachteilig in seinen rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt worden ist.  *109 Das Unionsrecht anerkennt also die Schutznormtheorie, allerdings in Gestalt der funktionalen Subjektivierung von Rechtsnormen mit personalen Schutzgütern (z.B. Schutz der Verbraucher, Schutz der menschlichen Gesundheit).

b) Altruistische Verbandsklage

Die altruistische Verbandsklage ist dem Grunde nach prozessrechtlich unbedenklich (§ 42 Abs. 2 Alt. 1 VwGO). Große praktische Bedeutung hat sie im Umweltrecht und steht dort im Dienste einer objektiven Rechtskontrolle der Verwaltung. Maßgebend sind europarechtliche Vorgaben,  *110 die ihrerseits Völkerrecht – in Gestalt der Aarhus-Konvention (AK)  *111 – umsetzen. Ausdrücklich hat der Europäische Gerichtshof betont, nach dem einschlägigen Unionsrecht müssten klageberechtigte Verbände die Verletzung von Vorschriften des Umweltschutzrechts auch dann gerichtlich geltend machen können, wenn derartige Vorschriften nur die Allgemeinheit schützen und nicht auch Rechte bzw. Rechtsgüter des Individuums.  *112 Diese gegen das frühere deutsche Umweltrechtsbehelfsgesetz  *113 gerichtete Entscheidung hat Anfang 2013 zu einer Reaktion des deutschen Gesetzgebers geführt.  *114 Schon ist in der Rechtsprechung akzeptiert worden, dass ein klageberechtigter Umweltverband einen Verstoß gegen umweltschützende Rechtsvorschriften gerichtlich geltend machen kann, auch wenn diese nationalen Vorschriften keinen subjektiven Rechtsschutz Einzelner gewähren.  *115

Festzuhalten bleibt, dass die Klagebefugnis ganz wesentliche Impulse durch das EU-Recht erhält.  *116 Es ist an der Zeit, dass in Deutschland die maßgebenden Organe der Gesetzgebung und der Rechtsprechung ihre Abneigung gegen die breit angelegte Verbandsklage im Umweltrecht ablegen und sich gegenüber den europarechtlichen Entwicklungen im Interesse der Sache, also des Umweltschutzes, aufgeschlossen zeigen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat nun reagiert und einem Umweltverband die Klagebefugnis gegen die Ablehnung der Aufstellung eines Luftreinhalteplans zugesprochen. Grundlage dafür sei allerdings nicht die Verbrauchsklagebefugnis (§ 42 Abs. 2 Alt. 1 VwGO), sondern die Geltendmachung der Verletzung eigener Rechte (§ 42 Abs. 2 Alt. 2 VwGO). Zur Sicherung der praktischen Wirksamkeit des Unions(umwelt)rechts wird dem Verband eine „prokuratorische” Rechtsstellung zugewiesen.  *117 Der Umweltverband handelt danach als „Treuhänder” zur Durchsetzung des EU-Rechts. Methodisch ist die Entscheidung sicherlich angreifbar. In der Sache belegt sie aber die fortschreitende Europäisierung des nationalen Rechts.

2. Subjektiver Rechtswidrigkeitszusammenhang

a) Begründetheit der Klage: eigene Rechtsverletzung

In einem engen Zusammenhang mit dem deutschen Konzept zur Klagebefugnis steht der subjektive Rechtswidrigkeitszusammenhang. Er findet Niederschlag im positiven Recht  *118 und besagt, dass eine zulässige Klage nicht schon bei objektiver Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts begründet ist, sondern zusätzlich die dadurch erfolgende subjektive Rechtsverletzung des Klägers voraussetzt.  *119 Das bedeutet, dass trotz der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts die Klage unbegründet ist, wenn der Kläger nicht zugleich in eigenen Rechten verletzt ist.  *120

Ausnahmen von diesem Konzept gibt es nur wenige. Das bekannteste Beispiel, das auch in der Praxis von Bedeutung ist, ist die Klage gegen einen Planfeststellungsbeschluss mit enteignungsrechtlicher Verwirkung. Betroffene Grundeigentümer können eine umfassende gerichtliche Überprüfung der behördlichen Planungsentscheidung (z.B. für einen Straßenbau) verlangen.  *121 Die nicht enteignungsrechtlich betroffenen Kläger können keine insgesamt fehlerfreie behördliche Planungsentscheidung beanspruchen; relevant sind nur die Verletzung gerade diese Kläger schützender Normen sowie eine nicht ordnungsgemäße Abwägung ihrer geschützten privaten Belange.  *122

b) Europarechtliche Risiken

Bislang ist dieses deutsche Konzept europarechtlich ohne Beanstandung geblieben. Das gilt sogar – modifiziert – für die Verbandsklage im Umweltrecht. Ein Umweltverband kann mit Erfolg nur den Verstoß gegen umweltschützende Rechtsvorschriften rügen.  *123 Eine umfassende, über umweltrechtliche Belange hinausgehende gerichtliche Kontrolle der Verwaltungsentscheidung, also z.B. des Planfeststellungsbeschlusses, findet nicht statt.  *124

In einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen des Vorwurfs einer Verletzung der Industrieemissionsrichtlinie und der UVP-Richtlinie  *125 durch das deutsche Verwaltungsprozessrecht greift die EU-Kommission nun den subjektiven Rechtswidrigkeitszusammenhang an: Sei die Klage einer natürlichen oder juristischen Person zulässig, dürfe die gerichtliche Prüfung nicht auf solche Vorschriften beschränkt werden, die Rechte Einzelner begründen; vielmehr müsse die Einhaltung aller Verfahrensbestimmungen und materiellrechtlichen Vorschriften kontrolliert werden.  *126 Zur Begründung beruft sich die EU-Kommission auf das „Trianel”-Urteil des Gerichtshofs; die von der EU-Kommission in Bezug genommene Aussage dieser Entscheidung  *127 befasst sich allerdings nur mit der Zulässigkeit einer umweltrechtlichen Verbandsklage unter dem Aspekt des Rügepotentials, d.h. zulässiger Klagegründe. Daraus lässt sich jedoch kaum die Pflicht deutscher Gerichte zu einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle des Verwaltungshandelns ableiten.  *128

3. Vorläufiger Rechtsschutz

Für das Verwaltungsprozessrecht hat die Europäische Union keine Regelungskompetenz. In Sonderheit gilt dies für den verwaltungsgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutz. Für eine durchgreifende Wirkung bei der Vereinheitlichung der Maßstäbe für die Rechtsschutzgewährung hat indessen die Judikatur gesorgt. Dazu stellte der frühere Präsident des Europäischen Gerichtshofs fest, dass die dazu ergangene Rechtsprechung „die intensivste Auswirkung des Gemeinschaftsrechts auf die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten” bedeutet.  *129

a) Richterrechtliche Harmonisierung des vorläufigen Rechtsschutzes

Die Frage der Europäisierung des vorläufigen Rechtsschutzes ist aufgeworfen, wenn im Rahmen eines Eilantrags bei einem mitgliedstaatlichen Gericht die Gültigkeit der dem nationalen Vollzugsakt zu Grunde liegenden Norm des sekundären Unionsrechts bestritten wird. Nationale Gerichte sind nicht befugt, Handlungen der Unionsorgane für ungültig zu erklären; diese Kompetenz hat allein der Europäische Gerichtshof.  *130 Auf der anderen Seite verlangt der effektive Rechtsschutz  *131 jedoch die Befugnis der nationalen Gerichte zur Aussetzung der Vollziehung eines auf einer europäischen Verordnung, Richtlinie oder Kommissionsentscheidung beruhenden nationalen Verwaltungsakts, wenn die Gültigkeit der Rechtsgrundlage bestritten ist.  *132 Der Gerichtshof hat die Befugnis zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes anerkannt, behauptet jedoch, dafür müssten in allen Mitgliedstaaten einheitliche Regeln gelten, die denjenigen der Unionsgerichte entsprächen.  *133 Der EuGH überträgt also kurzerhand die Voraussetzungen seiner Befugnis zur Aussetzung der Vollziehung einer Verwaltungsmaßnahme (Art. 278 AEUV) auf die nationalen Gerichte.

Danach darf das nationale Gericht die Vollziehung des Verwaltungsakts aussetzen, wenn es

(1)  erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des sekundären Unionsrechtsaktes hat,

(2)  die Frage der Gültigkeit dem Gerichtshof, soweit dieser noch nicht damit befasst ist, vorlegt,

(3)  die Eilentscheidung dringlich ist und dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden droht und

(4)  wenn das um vorläufigen Rechtsschutz angerufene nationale Gericht die Interessen der Europäischen Union angemessen berücksichtigt.  *134

 

Diese Kriterien für den vorläufigen Rechtsschutz im gerichtlichen Aussetzungsverfahren (§ 80 Abs. 5 VwGO) hat der Gerichtshof auf das Eilverfahren zum Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO) übertragen.  *135

b) Kompetenzüberschreitung des EuGH

Eine Kompetenzgrundlage für seine richterliche Kreation von Entscheidungsmaßstäben für Eilentscheidungen nationaler Gerichte bei Sachverhalten mit EU-Rechtsbezug nennt der Europäische Gerichtshof nicht. Da die Organkompetenz des Gerichtshofs nicht weiter reichen kann als die Verbandskompetenz der Europäischen Union, ist eine Kompetenznorm auch nicht erkennbar. Bemüht wird vielmehr die „Kohärenz des Systems des vorläufigen Rechtsschutzes”.  *136 Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Kompetenznorm, sondern um ein rechtspolitisches Postulat.  *137

Im deutschen rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird die skizzierte EuGH-Rechtsprechung weithin als kompetenzwidrig („ultra vires”) eingestuft.  *138 Das Bundesverfassungsgericht hat jene Judikatur unter Rechtsschutzaspekten (Art. 19 Abs. 4 GG) akzeptiert;  *139 die Kompetenzfrage hat das höchste deutsche Gericht jedoch gar nicht erst aufgeworfen. Europarechtlich ist kritisiert worden, die „Kohärenz”-Argumentation des Gerichtshofs setze die Rechtsprechung zur „Zauberformel” des effet utile fort und solle offenbar von der Beachtung des Gebots der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV) entbinden, obgleich in den entschiedenen Fällen zum vorläufigen Rechtsschutz der Äquivalenzgrundsatz und der Effektivitätsgrundsatz zur Sicherung des einheitlichen Vollzugs des EU-Rechts ausgereicht hätten.  *140 Dieser zutreffenden Einschätzung ist nichts hinzuzufügen.

V. Fazit und Ausblick

Die Europäisierung des Verwaltungsrechts ist zu einer unüberwindbaren Determinante der modernen Staatsverwaltung geworden. Keine innerstaatliche Stelle kann sich den Einwirkungen des Unionsrechts entziehen. Über ihre Einhaltung durch die Mitgliedstaaten wacht der Europäische Gerichtshof. Er hat Instrumente entwickelt, die auf die Durchsetzung und reale Geltung des Unionsrechts zielen. Das ist hier an drei übergreifenden Rechtsgebieten (Allgemeines Verwaltungsrecht, Verwaltungsverfahrensrecht, Verwaltungsprozessrecht) skizziert worden. Im Besonderen Verwaltungsrecht ist die Europäisierung zum Teil noch weiter fortgeschritten.  *141 Die Mitgliedstaaten sind aufgerufen, diesen Prozess der Durchdringung innerstaatlichen Rechts durch das Unionsrecht ernst zu nehmen und, wo dies notwendig ist, kritisch zu begleiten. Dabei kommt der entsprechenden Ausbildung junger Juristen und der Weiterbildung im Beruf befindlicher Juristen ein hoher Stellenwert zu. Denn nur wer über die Europäisierung des Verwaltungsrechts informiert ist, kann als Jurist die Zeichen der Zeit erkennen.

 

pp.102-117