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JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

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Public Administration and Law

21/2014
ISBN 978-9985-870-33-4

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Die Entstehung des Allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts (1850–1900)

In Deutschland des 19. Jahrhunderts war das Verwaltungsrecht, entstanden aus dem älteren „Policeyrecht“, das öffentliche Recht von 28 verschiedenen Ländern. Es war uneinheitlich und kein Gegenstand des juristischen Studiums. Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 nahm aber das Bedürfnis zu, aus diesem Material einen „Allgemeinen Teil“ zu entwickeln, der die überall vorkommenden Grundfiguren enthielt. Dazu mussten die nichtjuristischen Elemente von den rechtlichen getrennt werden, um dann aus den rechtlichen Elementen jene Grundfiguren zu bilden.

Dieser Vorgang, der zwischen 1850 und 1900 abläuft, vollzieht sich in der jungen Disziplin des Verwaltungsrechts, die sich nun an den Universitäten durchsetzt. Die Autoren verwendeten mehr oder weniger entschieden die sog. konstruktive Methode, wie sie als „Begriffsjurisprudenz“ aus dem Zivilrecht bekannt war. Unter ihnen war auch der zeitweise in Dorpat/Tartu lehrende Edgar Loening von Bedeutung. Abgeschlossen wurde dieser Prozess, eine spezielle Form der „Verwissenschaftlichung“, durch das Werk von Otto Mayer (1895). Er formulierte einen „Allgemeinen Teil“ des Verwaltungsrechts, der das Verwaltungsrecht in Deutschland für fast drei Generationen prägen sollte.

Keywords:

Verwaltungsrecht; Edgar Loening; Reichsgründung; Rechtsstaat; öffentliches Recht; Allgemeiner Teil

I.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich in der Disziplin, die man jetzt „Verwaltungsrecht” nannte ein Wechsel der Perspektive. Das Verwaltungsrecht, das in Deutschland noch bis um 1830 „Polizeirecht” genannt wurde, aber auch (nach französischem Vorbild) Administrativrecht, wurde traditionell in den Lehrbüchern so dargestellt, dass man für die einzelnen Ministerien aufzählte, welches Administrativrecht bei ihnen galt. Die Masse dieses „Polizeirechts” lag beim Innenministerium, anderes beim Finanzministerium, Kriegsministerium, Justizministerium und ein wenig auch beim Außenministerium. Diese Darstellungsweise nannte man die „staatswissenschaftliche Methode”. Sie war einfach und übersichtlich, aber eben unjuristisch und einfach additiv. Verbindungen zwischen den einzelnen Gesetzen des Administrativrechts schien es nicht zu geben. Land- und Forstwirtschaft, Veterinärmedizin, Wasserwirtschaft, Ingenieurwissenschaft, Bergbau, Armenwesen, Finanzwesen und Geldpolitik – alles war öffentlichrechtlich geordnet und gehörte zur „Administration” *1 .

Ab 1865 erhob sich hiergegen im Namen der „juristischen Methode” Widerspruch. Die Masse des Stoffs war nicht mehr beherrschbar. Ein Dutzend nichtjuristischer Spezialdisziplinen hatten sich ausgebildet. Deshalb versuchte man nun, alle „Realien” beiseite zu schieben, um die juristischen Verbindungselemente zu betonen. Man suchte die juristischen Strukturen und wollte „wissenschaftlich” arbeiten. Eine logisch kohärente Dogmatik sollte entstehen, wie man sie vom Zivilrecht kannte. Konnte man nicht, so lautete die neue Frage, einen Kanon von Figuren und Rechtsprinzipien des „allgemeinen” Verwaltungsrechts bilden, der überall anwendbar war, der eine Struktur ergab, so dass man auf die nichtjuristischen Disziplinen nur verweisen musste? Der Rechtsstaat verlangte eine Herauspräparierung des juristisch Wesentlichen, damit seine neu geschaffenen Kontrollmechanismen, die Verwaltungsgerichte, auch wirklich funktionieren konnten. Diese Tendenz wurde beflügelt vom Vorbild der auf ihrem Höhepunkt stehenden pandektistischen Zivilistik, die sich ihres aus dem römischen Recht entwickelten Begriffsapparats sicher war, die eine „Construktionsjurisprudenz” favorisierte und die ökonomischen Interessen sowie die Zwecke der Rechtsinstitute ausblendete. Die sich formierende Verwaltungsrechtswissenschaft suchte dort die naheliegende Anlehnung, um die Ebene juristisch anerkannter Teildisziplinen zu erreichen. Rechtsstaat und wissenschaftlich bearbeitetes Verwaltungsrecht wurden bald miteinander identifiziert: „Wenn der Begriff des Rechtsstaats irgend eine reelle Bedeutung hat”, schrieb Carl Friedrich von Gerber 1865, „so ist es gerade die, dass mehr und mehr auch auf dem Gebiete der Verwaltung feste rechtliche Bestimmungen gegeben werden, welche der Willkür den Boden entziehen” *2

Die Trennung von Verfassungs- und Verwaltungsrecht erschien sinnvoll, da die juristischen Vordenker nach dem Scheitern der Verfassungsfrage 1848–50 versuchten, den Rechtsstaat als Kernbestand des liberalen Verfassungsprogramms vor 1848 zu bewahren. Dies geschah mit dem plausiblen Argument, der Rechtsstaat sei auch ökonomisch vorteilhaft, weil er Sicherheit und Berechenbarkeit gewährleiste. Insofern lag es in der Logik der Entwicklung nach 1850, das Verwaltungsrecht von der prekären Verfassungsfrage zu lösen und es als eigenständiges Gebiet neben dem Staatsrecht aufzubauen. In diese Richtung entwickelte sich nun die methodische Debatte mit ihrer Wendung zum rechtswissenschaftlichen „konstruierenden” Positivismus. Carl Friedrich von Gerber verlangte 1865 energisch die wissenschaftliche, aber separate Durchdringung von Staatsrecht und Verwaltungsrecht. Das Verwaltungsrecht brauche eine eigene Theorie, ein eigenes „System“; denn es würde, wie er sagte, „die Reinheit und Selbständigkeit des Staatsrechts leiden, wenn man dasselbe wissenschaftliche System für den Platz der Darstellung der Rechte der Landstände und der Bestimmungen über Vorkehrungen gegen die Rinderpest ansehen wollte…So würden wir es gewiß in diesem Sinne als einen Fortschritt begrüßen, wenn endlich auch das Verwaltungsrecht in seiner Selbständigkeit erkannt und von der Verbindung mit dem Staatsrecht gelöst wird” *3 .

Auf diese Weise kam es gerade in Deutschland zu einer doppelten Amputation des Verwaltungsrechts. Einerseits wurde die Verbindung zur Verwaltungspraxis und der sie überformenden (alten) Polizeiwissenschaft bzw. (neuen) Verwaltungslehre abgeschnitten, auf der anderen Seite wurden um der „Eigenständigkeit” des neuen Fachs willen die Verbindungen zum politischen Ursprungsgebiet des Verfassungsrechts gelöst. Übrig blieben die sowohl praxis- als auch scheinbar politikfreien „juristischen” Aussagen zum Verwaltungsrecht, deren Abstrahierung und Dogmatisierung nun als Aufgabe anstand. Damit wurden auch materiale, ökonomische und politische Inhalte und Zwecke als „nichtjuristisch” ausgeblendet. Erst diese Formalisierung machte es möglich, unabhängig von den Inhalten die Rechtsform zu entdecken und zur Grundlage der Systematisierung zu nehmen. So kamen das Bedürfnis nach Realisierung des Rechtsstaats, die nach 1850 einsetzende Entpolitisierung und die Tendenz zur Verwissenschaftlichung nach dem Vorbild des Zivilrechts im Sinne des nun allgemein akzeptierten Rechtspositivismus zusammen.

II.

Der Weg zur „juristischen Methode” im Verwaltungsrecht verlief jedoch keineswegs geradlinig. Bedeutende Verwaltungstheoretiker widersetzten sich der Reduktion auf den normativen Kern. Es waren Autoren, die politisch dachten, die auch weiter auf historische und philosophische Argumente nicht verzichten wollten.

Beispielhaft hierfür ist das Werk von Rudolf von Gneist (1816–1895). Seine akademischen Anfänge lagen in der Berliner Historischen Schule, seine frühen Ideale im politischen Liberalismus und in einer stark vom englischen Vorbild beeinflussten Bürgergesellschaft *4 . Nach den für ihn turbulenten Erfahrungen der Jahre 1848 bis 1850 vertiefte er sich in das englische Verwaltungsrecht und in die dortige Kommunalverfassung. Er war Stadtverordneter in Berlin, preußischer Abgeordneter und nationalliberaler Reichstagsabgeordneter. Seine Idee des „selfgovernment” zielte auf eine Aktivierung des Bürgertums, um die Differenz zwischen Staat und Gesellschaft zu überwinden. Das Bürgertum sollte gewissermaßen den monarchischen Anstaltsstaat durchdringen, und dieser wiederum musste Rechtsstaat werden. Gneist engagierte sich deshalb für Geschworenengerichte, für das richterliche Prüfungsrecht, für Selbstverwaltung, für eine Verbesserung des Anwaltsstandes, eine wissenschaftlich angeleitete Sozialpolitik, für die Gründung des Deutschen Juristentags sowie für ein allseits akzeptables Modell der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Übertragung seiner Ideen in ein systematisches Werk zum deutschen Verwaltungsrecht hat Gneist nicht versucht. Wohl aber ist er in vielfältiger Weise repräsentativ für die rechtspolitischen Ziele und Erfolge der protestantischen Nationalliberalen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Auf ähnliche Weise distanziert vom rechtspositivistischen Hauptstrom der Rechtswissenschaft entfaltete sich der gleichaltrige Lorenz von Stein (1815–1890) *5 . Auch er begann als Liberaler in der schleswig-holsteinischen Auseinandersetzung mit Dänemark, verlor 1852 seine Professur für Staatswissenschaften in Kiel, ging 1855 nach Wien, wo er politische Ökonomie lehrte. Als Kenner der französischen Sozialisten und geprägt von Hegel suchte er wie Gneist eine Lösung der Disharmonien der Gesellschaft durch „gute Verwaltung”. Die soziale Frage wollte er dem über den Parteien stehenden idealisierten Königtum überantworten – eine konservative „staatssozialistische” Idee, die sich faktisch in Bismarcks Sozialgesetzgebung auch niederschlug. Das Königtum sollte, so Stein, eine verfassungsgebundene „arbeitende Verwaltung” nutzen. In den Jahren 1865 bis 1868 schrieb er in diesem Sinn eine monumentale „Verwaltungslehre” *6 , ein Werk, das materiell die Polizeiwissenschaft fortsetzte, aber nicht den Rechtszustand für einzelne Ressorts referierte, sondern aus den Aufgabenfeldern große Blöcke entwickelte (Bevölkerungswesen, Gesundheitswesen, Sicherheitspolizei, Bildungswesen). Mit seiner Verwaltungslehre stemmte sich Stein dem Differenzierungsprozeß der Disziplinen entgegen. Er band die juristischen und nichtjuristischen Teile der Verwaltung mit den Prinzipien der Verfassung zusammen und machte so gegen die Entpolitisierung des Verwaltungsrechts Front. Schließlich verhalf er dem Fach „Verwaltungslehre” in Österreich zu einem schon unzeitgemäß gewordenen Überleben bis zum Ersten Weltkrieg.

III.

Das Beharren auf der „Einheit der Staatswissenschaften” wurde allerdings im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mehr und mehr als rückständig empfunden. Nachdem die speziellen staatswissenschaftlichen Fächer der alten „Policey” sich in den Fakultäten der Land- und Forstwirtschaft, Veterinärmedizin, Bevölkerungswissenschaft, Finanzwissenschaft und Nationalökonomie neu zu ordnen begannen, blieb das Verwaltungsrecht im Zeichen des Rechtsstaats zurück. Die ersten für alle Verwaltung geltenden allgemeinen Regeln bildeten sich typischerweise an der Grenzlinie zwischen Verfassung und Verwaltung. Dort konnte zur Trennung von Justiz und Verwaltung, zum Verbot rückwirkender Belastungen, zum Bestandsschutz wohlerworbener Rechte, zur Entschädigungspflicht bei Enteignungen, zur Gesetzesbindung des Staatshandelns oder zum Verhältnis von Gesetzes- und Verordnungsrecht Stellung genommen werden.

Erste Ansätze zur Schaffung eines so verstandenen „Allgemeinen Teils” finden sich in Romeo Maurenbrechers „Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts” (1838), in Heinrich Zoepfls „Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts” (1840), vor allem aber – nach dem Muster des zweiten Bandes von Robert von Mohls „Staatsrecht des Königreichs Württemberg” – in den Darstellungen der Landesstaatsrechte. Eines der ersten Bücher, das sich trotz Beibehaltung der Gliederung nach dem Ressortprinzip in die Richtung einer Zusammenfassung von allgemeinen Rechtsregeln der Verwaltung bewegt, war das Lehrbuch des Bayerischen Verwaltungsrechts von Josef Pözl (1856). Aber es war eher das Plädoyer für eine „wissenschaftliche Bearbeitung des Verwaltungsrechts” als deren frühe Erfüllung. Der eigentliche Pionier, der dies versuchte, war ein württembergischer Beamter, Friedrich Franz (von) Mayer, der 1857 seine „Grundzüge des Verwaltungsrechts und -Rechtsverfahrens” veröffentlichte. 1862 erschienen sie in erweiterter und vertiefter Form *7 .

Wie im „gemeinen deutschen Staatsrecht” des Vormärz ging es nun um die – in der Sache viel mühsamere – Herausbildung eines „gemeinen deutschen Verwaltungsrechts”. Gerade war in zweiter Auflage Gabriel Dufours „Traité général de droit administratif” in sieben Bänden erschienen (1854–57) und konnte als Vorbild dienen, etwa bei der Grundfigur des Administrativakts, bei den öffentlich-rechtlichen Rechten und Pflichten des Staatsbürgers oder bei den öffentlichrechtlichen Anstalten. Gerade hatte auch Carl Friedrich von Gerber, ab 1851 in Tübingen, die „Aufstellung eines wissenschaftlichen Systems…in welchem sich die einzelnen Gestaltungen als die Entwicklung eines einheitlichen Grundgedankens darstellen” gefordert. Diesen Linien folgend entwickelte Mayer die „öffentlichen Rechtsverhältnisse des Einzelnen zum Staat” einschließlich der Eingriffsbefugnisse der Polizei, sowie das Recht der öffentlichen Körperschaften mit einem rechtsvergleichend ermittelten gemeindeutschen Kommunalrecht. Der erste „Allgemeine Teil” erscheint im vierten Kapitel unter der Überschrift „Allgemeine Ergebnisse und Rechtssätze”.

Schulbildend wirkte dieses Werk nicht, sein Umfeld blieb Württemberg, aber das Stichwort der nun zu verfolgenden „juristischen Methode” war gefallen. In Franz von Holtzendorffs „Encyklopädie der Rechtswissenschaft” erschien 1870 ein knappes, historisch und rechtsvergleichend orientiertes „Verwaltungsrecht” und sein Autor begann 1871 an der Universität Halle Verwaltungsrecht zu lesen *8 . 1875 forderte der Jenaer Öffentlichrechtler Georg Meyer die Trennung von Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht und empfahl „die juristische Durchdringung des Stoffs und eine rechtswissenschaftliche Konstruktion der verwaltungsrechtlichen Institute” *9 . Bald darauf schrieb er ein „Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechts” (1883), in dem er zwar noch das Ressortprinzip befolgte und den Zusammenhang mit der Verwaltungslehre zu bewahren suchte, aber doch in einem schrittweise ausgebauten Abschnitt „allgemeine Lehren” bot. Wieder ein Jahr später (1884) lag erstmals die Gesamtdarstellung eines „Allgemeinen Teils” vor. Sein Autor, der Jurist und Politiker Otto von Sarwey (1825–1900), hatte 1880 eine Monographie „Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege” sowie 1883 ein tausendseitiges „Staatsrecht des Königreichs Württemberg” vorgelegt. Er verstand das Verwaltungsrecht als Schutzrecht der Grundrechte Freiheit und Eigentum, und er legte größten Wert auf die funktionale Verklammerung von Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Gleichzeitig betonte er aber die Weite der Staatszwecke in einem als Genossenschaft gedeuteten modernen Rechtsstaat.

IV.

Ebenfalls 1884 und unabhängig von Sarwey erschien das „Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechts” von Edgar Loening (1843–1919). Die konzise und transparente Darstellung wurde begrüßt, weil nun an die Stelle des „erzählenden” Ressortprinzips eine Gliederung nach „Organisation der Verwaltung”, „Innere Verwaltung” und „Verwaltungsrechtspflege” gesetzt war. Der Allgemeine Teil trat an die Spitze der inneren Verwaltung, war aber immer noch schwach ausgebildet, weil Loening sich der strikten, von Gerber ausgehenden Richtung der konsequenten Verbannung der Inhalte, der Verwaltungswirklichkeit und der verfolgten Zwecke zugunsten der Rechtsform nicht anschließen wollte. Otto Mayers „Theorie des französischen Verwaltungsrechts” (1886) kritisierte er scharf und wandte sich gegen die „Überschätzung des wissenschaftlichen Werths der Begriffe und Definitionen” *10 . Er wies Mayer nach, dass auch er mit Zwecken operieren müsse und dass das französische Verwaltungsrecht, das er übrigens aus seiner Straßburger Zeit gut kannte, keineswegs so systematisch sei wie Mayer es darstellte. Ganz anderer Meinung war Paul Laband, der an Otto Mayers „Theorie” hervorhob, dort finde man „eine scharfsinnige und für das wissenschaftliche Verständnis fruchtbringende Erörterung der wenig zahlreichen, aber viel umfassenden und inhaltsvollen Rechtsgestaltungen, welche gleichmäßig in den verschiedenen Ressorts der Verwaltung wiederkehren, weil sie auf den verschiedenartigsten Thatbestand Anwendung finden können” *11 .

An dieser Stelle ist es wohl angebracht, einige Worte über die Biographie Edgar Loenings (1843–1919) zu sagen. Er gehörte zur Generation von Paul Laband (1838–1918) und Otto Mayer (1846–1924). Man kennt ihn als Verfasser einer zweibändigen „Geschichte des deutschen Kirchenrechts” in Gallien unter den Merowingern (1878), des genannten „Lehrbuchs des deutschen Verwaltungsrechts” (1878), des ersten, das diesen Titel trug, und als Herausgeber des großen sechsbändigen Handbuchs der Staatswissenschaften (1880–1894). Am Ende seines Lebens war er vielfach dekoriert, Träger zahlreicher Orden, Ehrenmitglied der Kaiserlichen St. Wladimir-Universität zu Kiew (1895), Rektor der Universität Halle und zuletzt Mitglied des preußischen Herrenhauses (1901). Er galt als Konservativer, wurde aber vom preußischen Kultusminister Gustav von Gossler als zu liberal und zu kritisch in Kirchendingen beurteilt.

In Loenings Biographie entfaltet sich ein Kapitel deutscher Politik und Literatur *12 . Er stammte aus einer jüdischen Familie mit Namen Löwenthal. Sein Großvater war Kaufmann und Tabakfabrikant in Ladenburg bei Heidelberg, dann in Mainz und Mannheim. Dessen Bruder, Herz Löwenthal, hatte einen Sohn Moritz, der sich ab 1820 Lenel nannte und dessen Sohn wiederum der bekannte Zivilrechtler und Rechtshistoriker Otto Lenel (1841–1935) war. Edgar Loenings Vater Zacharias Löwenthal (1810–1884) machte eine buchhändlerische Ausbildung in München, Berlin, Hamburg und Frankfurt und gründete dann 1835 eine eigene „Verlagsbuchhandlung” Dort verlegte er eine Gruppe von Autoren, die man pauschal „links” nennen konnte, revolutionäre Dichter, die allesamt gegen die politische Unterdrückung des „Systems Metternich” anschrieben (Karl Gutzkow, Heinrich Laube, Ludolph Wienbarg, August Lewald, Ludwig Börne, Heinrich Heine, Karl August Varnhagen von Ense, Christian Dietrich Grabbe, Georg Büchner sowie die Juristen Eduard Gans und Wilhelm Trendelenburg). Christliche Kritiker protestierten gegen dieses Programm, die politische Polizei wurde aufmerksam – kurz und gut, im Dezember 1835 wurde der Verlag von Metternich höchstpersönlich verboten, die Bücher wurden beschlagnahmt, ein Autor wurde verhaftet, der Verleger verlor seine Konzession. Das war das berühmte Verbot der Literarischen Gruppe „Das junge Deutschland”.

Die meisten Autoren flüchteten ins Ausland, wo auch schon Heinrich Heine und Karl Marx waren. Der republikanisch, demokratisch und linksliberal denkende Verleger wich nach Mainz aus und heiratete dort eine ebenfalls jüdische Bankierstochter Reinach. Deren Schwester heiratete einen jüdischen Juristen Dernburg, dessen einer Sohn wiederum der bekannte preußische Zivilrechtler Heinrich Dernburg (1829–1907) wurde. Zacharias Löwenthal, der Verleger, besuchte Marx in Paris, und bei einer dieser Reisen kam 1843 Edgar Löwenthal (der spätere Loening) in Paris zur Welt.

Er bekam später noch drei Geschwister, nämlich Richard (1848–1913), später Professor für Strafrecht in Jena, dann Gottfried (1851–1887), der später den Verlag „Rütten & Loening” weiterführte, jenen Verlag, der weltberühmt wurde durch das eigenartige, von Entwicklungsstörungen handelnde Kinderbuch „Struwwelpeter” des Frankfurter Arztes Heinrich Hofmann und durch die „Biene Maja” von Waldemar Bonsels. Schließlich wurde noch eine Tochter geboren, Lili Loening (1850–1936), welche Otto von Gierke heiratete. Der sozialgeschichtliche Hintergrund ist ungemein interessant: Die Familien Löwenthal/Loening, Lenel und Dernburg, alle aus Südwestdeutschland und alle aus jüdischem Bürgertum mit Tendenzen zur Assimilation (Namenswechsel und Konversionen), brachten bedeutende Juristen hervor. Otto von Gierkes Tochter Anna, eine bekannte Frauenrechtlerin, saß 1919 in der Weimarer Nationalversammlung, und zwar wiederum zusammen mit einem Vetter Bernhard Dernburg.

Edgard Loenings Studiengang sei wenigstens skizziert. Er studierte ab 1863 in Heidelberg, Bonn, Berlin und Leipzig, promovierte und habilitierte sich schließlich wieder in Heidelberg bei Johann Caspar Bluntschli. Es folgte eine Verwaltungsstelle in Straßburg und dort auch eine außerordentliche Professur. Er heiratete 1874 und folgte 1877 einem Ruf auf ein Ordinariat nach Dorpat/Tartu. Hier schrieb er die erwähnte „Geschichte des Deutschen Kirchenrechts” in Gallien und im Reich der Merowinger” (1878), weiter eine Abhandlung über Amtshaftung *13 und eine 1880 in Riga gedruckte Studie über „Die Befreiung des Bauernstandes in Deutschland und Livland” *14 . Diese Zeit in Dorpat, die er offenbar in großer Ruhe gelehrten historischen Arbeiten widmen konnte, endete 1882, also schon bevor 1889 die Studienordnung der Fakultät geändert, die Autonomie der Fakultät beseitigt und schließlich Russisch als Unterrichtssprache vorgeschrieben wurde *15 . Loening ging nach Rostock, wo er sein Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts schrieb und von da 1886 nach Halle. Dort gab es nochmals Zweifel, ob man einem zum Protestantismus konvertierten Juden das Kirchenrecht anvertrauen könne, aber diese Zweifel änderten nichts an der Berufung. Loening blieb in Halle, war literarisch sehr fleißig, bis er 1919 mit 76 Jahren bei einem Unfall auf der Straße starb. Dorpat/Tartu war also für ihn nur eine seiner akademischen Stationen, aber eine wichtige, zum einen wegen der historischen Studien, zum anderen für die Rückberufung nach Deutschland.

V.

1881 wurde das Fach „Verwaltungsrecht” an preußischen Universitäten verbindlich eingeführt. Karl Freiherr von Stengel (1840–1930) war der erste preußische Professor auf einem nur dem Verwaltungsrecht gewidmeten Lehrstuhl. Diese Durchsetzung des neuen Fachs im Kanon schloss einerseits die seit den dreißiger Jahren erkennbare Inkubationszeit ab, diente aber andererseits auch sofort als Stimulus für neue Lehrbücher, die sich, wie üblich, aus den Vorlesungen entwickelten. Die Darstellungen von Georg Meyer (1883), Otto Sarwey (1884), Edgar Loening (1884), Karl Stengel (1886) und Otto Mayer (1886) stehen in einem engen Diskussionszusammenhang. Man beobachtete sich und versuchte meist, zugunsten der nun immer dominanter werdenden „juristischen Methode” staatswissenschaftlichen Ballast abzuwerfen.

So verstärkte sich der Trend zur Herauspräparierung des juristischen Elements von mehreren Seiten. Das Zivilrecht forderte das junge Verwaltungsrecht heraus, Ähnliches zu leisten wie etwa Bernhard Windscheid mit seiner „Begriffsjurisprudenz”. Im eigenen Lager hatte Paul Laband vorgeführt, was es bedeute, durch „rein logische Denktätigkeit” die „einheitlichen Grundsätze und Prinzipien” zu gewinnen, die allem positiven Recht zugrunde lagen. Dieses Werk weckte den Ehrgeiz, zumal in derselben Straßburger Fakultät, auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts ein Gleiches zu versuchen. Schließlich ist eine internationale, in die gleiche Richtung zielende Strömung feststellbar. Für das Straßburg Labands und Otto Mayers liegt der direkte Einfluss des französischen Verwaltungsrechts auf der Hand. Und gleichzeitig begründete Vittorio Emanuele Orlando mit seinen „Principi di diritto amministrativo” (1891) das geistesverwandte italienische Verwaltungsrecht *16 .

Als der Strafrechtler Karl Binding 1888 den Straßburger Professor Otto Mayer (1846–1924) mit der Darstellung eines „Deutschen Verwaltungsrechts” beauftragte, geschah dies unter dem Eindruck von dessen „Theorie des französischen Verwaltungsrechts” und wohl auch auf Empfehlung Labands. Das 1895/96 vorgelegte zweibändige Werk wurde das Gründungsbuch des Verwaltungsrechts in dem Sinne, dass es erstmals eine auf allen Gebieten obrigkeitlichen Handelns in Formen des öffentlichen Rechts verwendbare Dogmatik der verwaltungsrechtlichen „Institute“ schuf. Mayer selbst hatte erklärt: „Soll die Verwaltungsrechtswissenschaft als gleichberechtigte juristische Disciplin neben die älteren Schwestern (Zivil- und Strafrecht, M.St.) treten, so muss sie ein System von eigenthümlichen Rechtsinstituten der staatlichen Verwaltung sein” *17 . Entscheidend waren also der Systembegriff, die strenge Trennung von öffentlichem und privatem Recht zur Findung des „eigenthümlichen” Elements, weiter die Vorstellung von „Rechtsinstituten”. Die Arbeit beschränkte sich auf den Bereich hoheitlicher Tätigkeit; insofern war Mayer ganz dem Modell der Trennung von Staat und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verhaftet. Was seine Methodik zur Bildung von „Grundbegriffen” anging, so hat er nebenbei auf Hegel hingewiesen. Er glaubte an die den Dingen immanenten „Ideen”, die sich in einer eigentümlich idealistischen und schwer durchschaubaren Weise dem Material ablauschen ließen. Das Material war ein Produkt des Gesetzgebers, der Geschichte, der politischen Willensbildung. Gleichwohl barg es jene „Grundbegriffe”, so dass man die Arbeit des Dogmatikers darin sehen kann, das jeweils Zufällige abzustreifen, das Typische zu finden und in einen „Rechtsbegriff” zu überführen. Rechtsbegriffe wiederum, befreit von den konkreten Inhalten, konnten in einen systematischen Zusammenhang eingebunden werden.

Die der sog. Konstruktionsjurisprudenz so oft gedankenlos und formelhaft vorgeworfene „Lebensfremdheit” kann jedenfalls bei Otto Mayer nicht festgestellt werden. Er wusste als juristischer Praktiker, welche Elemente er für seine Konstruktionen brauchen konnte und wie sie sich in der Wirklichkeit bewährten. Seine Gabe der Abstraktion und der griffigen Formulierung erleichterte es ihm, seinen Einteilungen Plausibilität zu geben. Verfassungsrechtlicher Hintergrund ist die konstitutionelle Monarchie in ihrer besonderen Ausprägung als Rechtsstaat. Sie brauchte, um rechtlich zu funktionieren, feste Begriffe, und diese gaben, wie Mayer sagte, „jenes eherne Gleichmaß, auf dem für das Gemeinwesen der Segen des Rechts beruht” *18 .

Im Einzelnen sind es die Grundfiguren des Verwaltungsakts, also der obrigkeitlichen Verfügung, die „dem Untertanen im Einzelfall bestimmt, was für ihn Rechtens sein soll” und die den Anknüpfungspunkt für die verwaltungsgerichtliche Kontrolle bietet *19 , weiter das „öffentliche Eigentum”, die Unterscheidung von Gemeingebrauch und Sondernutzung, von öffentlichrechtlicher Körperschaft und Anstalt, von Steuer, Gebühr und Beitrag, von allgemeinem und besonderem Gewaltverhältnis. Mayer hat überall auf älteren Fundamenten weitergebaut, präzisiert und, wo es ihm nötig schien, Zwecküberlegungen ausgeschieden und sich auf das formale Strukturelement konzentriert. Das begründete seinen Erfolg, provozierte allerdings auch die Kritik der dadurch faktisch verdrängten Vertreter der Verwaltungslehre, aber auch solcher Theoretiker, die versuchten, die Abtrennung des Verwaltungsrechts von den materialen Werten und den Zielen der Verfassungen zu verhindern. Letzteren erschien der Weg Otto Mayers ein Irrweg, weil seine Heraushebung der formalen rechtlichen Elemente dem „Recht” eine zu hohe Bedeutung für die Verwaltung zu geben schien. Verwaltung, so wurde gegen Mayer stets argumentiert, sei eben mehr als Recht, sie bedeute „arbeitende Verfassung”, eigenständige politische Gestaltung der Exekutive. Diese Kritiker fürchteten die Verengung dieser Gestaltungsfreiheit und, nicht zuletzt, eine Überantwortung der Verwaltungskontrolle an die Dritte Gewalt.

Die Kritik nutzte Argumente, wie sie auch im Reichsstaatsrecht gegen den sog. Gerber-Labandschen Positivismus vorgebracht wurden, etwa von Albert Hänel (1833–1918) und Otto von Gierke (1841–1921) oder von ihren Schülern Erich Kaufmann und Hugo Preuss. Insbesondere Kaufmann hat eine wichtige Beurteilung des Werks von Otto Mayer geschrieben und an die Verwaltungslehre sowie an die historische Perspektive erinnert *20 . Gegen den Rechtspositivismus im Verwaltungsrecht zu votieren, drückte nicht nur eine methodische Präferenz aus, sondern sagte auch etwas über das Bild der Verwaltung, das dem Kritiker vorschwebte. Es war entweder eine weniger rechtsgebundene, eher autoritär „schöpferisch” verfahrende Verwaltung, die sich den Geboten strikter rechtsstaatlicher Kontrolle nicht zu fügen brauchte, oder – gerade entgegengesetzt – eine vom Modell des obrigkeitlichen Befehls distanzierte, offenere und demokratischere Verwaltung, die ihre Legitimation auch aus der Einbeziehung der Bürger gewinnt. Unter diesen Kritikern waren auch solche, die den von Otto Mayer geschaffenen Allgemeinen Teil für zu einseitig öffentlichrechtlich hielten, weil er nicht hinreichend auf Mischphänomene wie die entstehende kommunale Leistungsverwaltung, das Wirtschaftsrecht oder das Technikrecht reagieren konnte. Jedenfalls wurde bald festgestellt, dass das Grundmodell des belastenden Verwaltungsakts zu einfach, dass das öffentliche Sachenrecht nicht notwendig und dass die Ablehnung des öffentlichrechtlichen Vertrags nicht sachgerecht war.

Zunächst jedoch galt Otto Mayer in der Zeit von 1900 bis zum Ersten Weltkrieg als unbestrittene Autorität. Die „überragende wissenschaftliche Bedeutung des Mayer’schen Verwaltungsrechts“ schien „über jeden Zweifel erhaben”. Fritz Fleiner, Karl Kormann, Paul Schoen, Gerhard Anschütz, Walter Jellinek, Richard Thoma, Ottmar Bühler, Otto Koellreutter oder der Schwede Carl-Axel Reuterskjöld (1870–1944) sind in ihren verwaltungsrechtlichen Arbeiten ebenso von ihm geprägt wie der österreichische Kritiker Ludwig Spiegel. So gab etwa Fritz Fleiner, der 1905 einen kleinen „Grundriß zu Vorlesungen über Verwaltungsrecht” veröffentlicht hatte, 1906 einen wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick, der das neue Selbstgefühl des jungen Faches noch einmal zusammenfasst: „Aus einer Mischlehre, welche Geschichte, Politik und Nationalökonomie bunt vermengte, ist die Wissenschaft des deutschen Verwaltungsrechts zum Range einer juristischen Disziplin herangewachsen, die mit derselben streng juristischen Methode, durch welche die Wissenschaft des Zivilrechts groß geworden ist, es unternommen hat, die Rechtsgrundsätze für die Beurteilung der Verhältnisse der öffentlichen Verwaltung zu gewinnen” *21 .

Fleiner war es auch, der 1911 mit seinen „Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts” die Reihe der wichtigsten Lehrbücher jener Gründungsphase des Fachs abschloss. Er wirkte damit auf wenigstens zwei Generationen deutscher und schweizerischer Verwaltungsrechtler stilbildend *22 . Bei aller Offenheit gegenüber der Empirie und der Geschichte der Verwaltung konzentrierte er sich, Otto Mayer im Prinzip folgend, auf die rechtlichen Grundbegriffe und das Rechts- und Pflichtenverhältnis zwischen Staat und Bürger samt Rechtsschutz. Das war in einer liberalen Variante der überall erreichte Stand vor dem Ersten Weltkrieg. Der Staat, gleichviel ob Monarchie oder Republik, war Verfassungsstaat und bürgerlicher Rechtsstaat. Die Verwaltung war an das Gesetz gebunden; ihre Residuen von Ungebundenheit lagen in den Ermessenstatbeständen und im Leistungsverwaltungsrecht.

Der Verwaltungsrechtsschutz durch unabhängige Gerichte war noch nicht perfekt, aber doch im Grundsatz akzeptiert. Er hatte 1863 in Baden begonnen, war dann 1874/75 auch in Preußen, Bayern, Württemberg und Österreich eingeführt worden und erreichte bis zum Ersten Weltkrieg fast alle deutschen Staaten *23 . Die Rechtsprechung der neuen Oberverwaltungsgerichte oder Verwaltungsgerichtshöfe prägte die weitere Verfeinerung des Verwaltungsrechts, ja man kann sagen, dass Wissenschaft und Rechtsprechung Hand in Hand arbeiteten. Sie schufen gemeinsam einen Grundbestand an Rechtsfiguren, mit denen sie das Verwaltungshandeln typisieren und als rechtliches Handeln deuten konnten. Sie taten dies im Wesentlichen ohne Bezugnahme auf Grundrechte, auf übergeordnete Verfassungsprinzipien oder gar auf Naturrecht. Das parlamentarisch beschlossene Gesetz war für sie das letzte Wort. Dieser keineswegs realitätsblinde oder nur obrigkeitshörige Gesetzespositivismus, wie später behauptet worden ist, war Ausdruck einer gewissen politischen Ruhelage zwischen dem mehrheitlich nationalliberalen Bürgertum und der monarchischen Gewalt, die sich ihrerseits den Maßstäben des bürgerlichen Rechtsstaats fügte.

Im Rückblick auf die „gute alte Zeit” vor 1914 sieht allerdings man heute deutlicher, wie labil diese Ruhelage war. Das Kaiserreich war unter dem „persönlichen Regiment” von Wilhelm II. keineswegs ungefährdet, und sein größter Staat Preußen praktizierte noch das zunehmend als Belastung empfundene Dreiklassenwahlrecht. Die Arbeiterbewegung war politisch mehr oder weniger ausgeschlossen. Die industrielle Massengesellschaft kündigte sich an. Die Fin de Siècle-Stimmung mit ihrer unruhigen Sinnsuche in der Philosophie und in den bildenden Künsten reagierte sensibel auf die gesellschaftlichen Verschiebungen und auf das Ende der das 19. Jahrhundert prägenden Ideologien. Das Recht der Wirtschaft auf der einen, das kollektive Arbeitsrecht mit dem Recht der Sozialversicherung auf der anderen Seite entstanden, das Recht der Technik und die rechtsähnliche Normierung der Massenproduktion breiteten sich aus *24 . Auch der sich nun ab etwa 1910 regende „antipositivistische” Widerstand, der die geschichtlichen, ökonomischen und politischen Elemente wieder in die rechtswissenschaftliche Diskussion zurückholen wollte, wirkte hier und da in das Verwaltungsrecht hinein. Doch blieben alle diese Vorgänge vor dem Ausbruch des Weltkriegs in der Verwaltungsrechtswissenschaft fast unbemerkt. Zu stark war die Befriedigung darüber, erst einmal die Anerkennung als eigenständige Disziplin des Rechts erreicht zu haben. Zudem wirkte die Illusion, das Verwaltungsrecht sei ein krisenfestes Fach. Die Staaten mochten ihre Verfassung wechseln, ja die Monarchien stürzen, aber einen Staat und eine geordnete Verwaltung müsse es immer geben. Das war, wie wir heute nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wissen, nur die halbe Wahrheit, und vielleicht nicht einmal dies.

DOI

pp.21-28