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JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

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On the Role of Consistency of the LegalSystem in a Democratic Republic

XVI/2009
ISBN 978-9985-870-26-6

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Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Privatisierung in Deutschland. Gliederungsübersicht

1. Einleitung

Die Privatisierung der Staatsaufgaben wird seit einigen Jahrzehnten in der Staats- und Verwaltungsrechtslehre eingehend diskutiert und in der Praxis in vielfältiger Weise aufgenommen und umgesetzt. Sie erstreckt sich auf fast alle Verwaltungsbereiche und auf alle Verwaltungsebenen, auf die Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen.

Die Privatisierung wird aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Zielen empfohlen oder sogar gefordert. Sie soll die ständig zunehmenden Verwaltungsaufgaben des Staates, insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge und der Leistungsverwaltung, reduzieren, den Verwaltungsapparat entlasten, finanzielle Kosten und Belastungen ersparen, die Sachkunde und die Leistungsfähigkeit privater Unternehmer nutzen und das bürgerschaftliche Engagement stärken. Sie stößt aber auch auf Kritik. So werden der Verlust an Staatlichkeit und der damit verbundenen Objektivität und Unabhängigkeit bedauert, die immer wieder hervorgehobenen ökonomischen und finanziellen Vorteile in Zweifel gezogen und darauf hingewiesen, dass die Privatisierung ihrerseits wieder eine Vielzahl von Rechtsnormen veranlasst und produziert. Das sind jedoch nur Einzelaspekte. Im Grunde geht es um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, – einerseits um die Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen und anderseits um ihre Verbindung im Sinne der Kooperation.

Die rechtspolitischen Argumente sind hier nicht weiter zu erörtern. Ich habe mich vielmehr mit den verfassungsrechtlichen Grenzen der Privatisierung in Deutschland zu befassen. Sie können freilich nur dann genauer bestimmt werden, wenn Klarheit über den Begriff der Privatisierung im rechtlichen Sinn besteht. Denn die Grenzen lassen sich nur bestimmen, wenn das, was begrenzt ist oder begrenzt werden soll, inhaltlich feststeht, ganz abgesehen davon, dass die begriffliche Abgrenzung schon Hinweise auf die Grenzen selbst gibt.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich bald, dass es nicht die Privatisierung, sondern unterschiedliche Typen und Formen der Privatisierung gibt, die zwar tendenziell in die gleiche Richtung zielen und die Verlagerung von Staatsaufgaben in den privatrechtlichen oder sogar den privatwirtschaftlichen Bereich bezwecken, aber doch noch erhebliche sachliche und rechtliche Unterschiede aufweisen. *2

2. Begriff und Arten der Privatisierung

Die überwiegende Lehre in Deutschland unterscheidet drei Arten der Privatisierung: (1) die Organisationsprivatisierung oder formelle Privatisierung, (2) die Erfüllungsprivatisierung oder funktionale Privatisierung und (3) die Aufgabenprivatisierung oder materielle Privatisierung.

2.1. Die Organisationsprivatisierung (formelle Privatisierung)

Sie liegt vor, wenn der Staat *3 bestimmte Verwaltungsaufgaben nicht (mehr) in den Formen des öffentlichen Rechts, sondern in den Rechts- und Organisationsformen des Privatrechts wahrnimmt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn er eine juristische Person des Privatrechts gründet und ihr die Erledigung der jeweiligen Aufgaben zuweist. So kann z. B. eine Gemeinde den Personennahverkehr durch eine Aktiengesellschaft (AG) oder die Tourist-Information durch eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) betreiben, die – wie auch sonst im Wirtschaftsleben – nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen und privatrechtlichen Regeln handeln. Diese Gesellschaften sind zwar rechtlich selbständig, bleiben aber an die staatliche Verwaltung gebunden, da sie als Träger der Gesellschaft in der Lage ist, diese zu beherrschen und maßgebenden Einfluss auf ihre Geschäftspolitik auszuüben. Genau betrachtet handelt es sich überhaupt nicht um eine Privatisierung, da keine Verlagerung in den gesellschaftlich-privaten Bereich, sondern nur ein Wechsel der rechtlichen Organisation und Formen stattfindet, der allerdings in den Bereich des Privatrechts führt. *4

2.2. Die Erfüllungsprivatisierung (funktionale Privatisierung)

Sie besteht darin, dass zwar die Zuständigkeit und die Verantwortung für die Erledigung von Verwaltungsaufgaben beim Verwaltungsträger verbleiben, aber die tatsächliche Erfüllung dieser Aufgaben teilweise oder sogar ganz auf Privatunternehmer übertragen wird. *5 Die Übertragung erfolgt durch Vertrag, der den Auftrag konkretisiert und die gegenseitigen Pflichten und Rechte festlegt. Der auf diese Weise herangezogene Privatunternehmer, der in der Literatur „Verwaltungshelfer“ genannt wird, kann je nach Ausgestaltung der vertraglich geregelten Beziehungen mehr oder weniger selbständig tätig werden. Nach außen tritt er in der Regel rechtlich nicht auf. Hoheitliche Befugnisse besitzt er nur ausnahmsweise, wenn er aufgrund eines Gesetzes dazu ermächtigt worden ist. *6 Die Erfüllungsprivatisierung kann sich im konkreten Fall auf ein einzelnes Projekt, etwa die Reparatur einer Kanalisation oder die Planungsarbeiten für ein Neubaugebiet, beschränken, aber auch auf eine längerfristige Zusammenarbeit – etwa die Planung, den Bau, die Unterhaltung und die spätere Kontrolle einer Abfallbeseitigungsanlage – erstrecken. Die Zusammenarbeit von Verwaltung und Privatunternehmer im Rahmen der Erfüllungsprivatisierung hat in der letzten Zeit erheblich zugenommen. Sie wird in der Literatur und Rechtsprechung und neuerdings auch in der Gesetzgebung unter dem Stichwort Public Private Partnership (PPP) bzw. Öffentlich Private Partnerschaft (ÖPP) näher behandelt. *7

2.3. Die Aufgabenprivatisierung (materielle Privatisierung)

Sie ist dann anzunehmen, wenn der Staat ganz auf eine bislang von ihm wahrgenommene Verwaltungsaufgabe verzichtet. Die Gründe können unterschiedlich sein. So ist es möglich, dass der Staat diese Aufgabe nunmehr für entbehrlich hält, dass er das öffentliche Interesse verneint oder dass er die Aufgabe bewusst dem gesellschaftlich-privatrechtlichen Bereich überlassen oder sogar zuschieben will in der Erwartung, dass die Aufgabe im freien wirtschaftlichen Wettbewerb besser, effektiver und kostengünstiger erledigt wird.

2.4. Sonderformen und Zwischengebilde

Die drei genannten Privatisierungsarten bilden eher idealtypische Grundmodelle. In der Praxis treten sie in zahlreichen Variationen und Verknüpfungen auf. Daher werden in der Literatur gelegentlich eine Reihe weiterer Privatisierungsformen genannt, die sich aber in Wirklichkeit meistens nur als Unterarten oder Zwischengebilde erweisen. So ist z.B. die sog. Verfahrensprivatisierung, die (nur) Teile des Verwaltungsverfahrens Privaten zuweist, etwa bestimmte Planungsabschnitte vor oder Qualitätskontrollen nach der behördlichen Genehmigung einer Anlage, der Erfüllungsprivatisierung zuzuordnen. *8 Entsprechendes gilt für die sog. Finanzierungsprivatisierung, die die Finanzierung eines Vorhabens durch Private betrifft. *9

Eine Weiterentwicklung der Organisationsprivatisierung bildet die sog. gemischt-wirtschaftliche Gesellschaft. Sie liegt vor, wenn der Staat nicht alle Gesellschaftsanteile in der Hand hat (Eigengesellschaft), sondern weitere Gesellschafter beteiligt sind (Beteiligungsgesellschaft), und zwar entweder Verwaltungsträger (gemischt-öffentliche Gesellschaft) oder Private (gemischt-wirtschaftliche Gesellschaft). Die Einbeziehung Privater kann für beide Seiten attraktiv sein. Der Private erhält über seine Geschäftsanteile Mitsprache- oder sogar Mitentscheidungsrechte, der Staat kann die Sachkunde und die Erfahrungen der privaten Mitgesellschafter nutzen und durch deren Kapitaleinsatz die finanzielle Basis verbreitern. Insoweit nähert sich diese Alternative der funktionalen Privatisierung. Strukturell kann im Staatsanteil eine Organisationsprivatisierung und im Privatanteil eine materielle Privatisierung gesehen werden. Innerhalb der gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaft kann es zwischen dem Staat und dem Privatunternehmer zu Spannungen kommen, da der Staat am Gemeinwohl orientiert ist, während die Privatunternehmer eher am Gewinn interessiert sind. Diese Spannungen sind im Wege der partnerschaftlichen Kooperation, erforderlichenfalls unter Ausnutzung der rechtlichen Einflussmöglichkeiten zu lösen. Die Gemeindeordnungen verlangen, dass die Gemeinden in den gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaften, die öffentliche Einrichtungen betreiben (etwa Abfallbeseitigung, Verkehrsbetriebe usw.), einen beherrschenden Einfluss erhalten, sei es über die Mehrheit der Geschäftsanteile, sei es über gesellschaftsrechtliche Verträge. *10 Ist das nicht (mehr) der Fall, besitzen sie nur noch eine Sperrminorität, mit der sie zwar gesellschaftliche Grundentscheidungen verhindern, aber nicht die laufende Geschäftsführung wirksam beeinflussen können.

Ein eigenständiger Typ stellt die sog. Vermögens- oder Eigentumsprivatisierung dar. *11 Durch sie werden nicht Verwaltungsaufgaben, sondern Vermögensgegenstände an Private abgegeben. Sie erfolgt durch Übereignung von Grundstücken, Anlagen, Aktien, Kunstgegenstände usw. nach den Vorschriften des Zivilrechts, führt also zu einem Eigentumswechsel. Dementsprechend hat sie auch mehr haushaltsrechtliche als verwaltungsrechtliche Bedeutung. Ist die Übereignung erfolgt, dann ist die „Privatisierung“ abgeschlossen. Sie kann aber auch in einem größeren privatisierungsrechtlichen Zusammenhang stehen, nämlich dann, wenn die Privatisierung in einer Stufenfolge verläuft, wenn z. B. ein Staatsunternehmen zunächst im Wege der Organisationsprivatisierung in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wird und später im Wege der Aufgabenprivatisierung die Aktien am freien Markt veräußert werden. Beispiele bieten das Volkswagenwerk und die Telekom. Der Staat kann übrigens einen Teil der Aktien behalten und sich auf diese Weise einen gewissen Einfluss auf das Unternehmen sichern. *12

Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch die sog. Beleihung zu erwähnen. In der Literatur wird sie zuweilen der Privatisierung zugerechnet. In Wirklichkeit ist sie jedoch grade umgekehrt das Gegenstück. Der Beliehene ist eine Privatperson (eine natürliche oder juristische Person des Privatrechts), der die Befugnis zur hoheitlichen Wahrnehmung bestimmter Verwaltungsaufgaben im eigenen Namen übertragen worden ist. *13 Er wird also – im Rahmen der Beleihung – nicht privatrechtlich, sondern öffentlich-rechtlich tätig und hat insoweit die Stellung einer Behörde. Allerdings kann die Beleihung auch im Rahmen der (funktionalen) Privatisierung bedeutsam werden. Es kommt nämlich immer wieder vor, dass einem an sich nur intern und privatrechtlich tätig werdenden Verwaltungshelfer *14 in beschränktem Umfang auch hoheitliche Aufgaben übertragen werden und er insoweit als „Beliehener“ tätig wird. Das kann leicht zu einem Zirkelschluss führen: Der Privatisierung folgt in Teilbereichen die Beleihung und damit die Rückkehr zur hoheitlichen Tätigkeit! *15

3. Allgemeinen Bemerkungen zu den ­verfassungsrechtlichen Grenzen

3.1. Differenzierung nach Privatisierungsformen

Die Frage nach den Grenzen stellt sich bei den verschiedenen Formen der Privatisierung in unterschiedlicher Weise.

Bei der formellen Privatisierung geht es darum, ob sich der Staat (insbesondere die Kommunen) durch die Wahl privatrechtlicher Rechtsformen den an sich bestehenden öffentlich-rechtlichen Bindungen entziehen darf. Die Problematik wird dadurch gelöst oder zumindest entschärft, dass der Staat dann, wenn er Verwaltungsaufgaben – direkt oder über eine rechtlich selbständige Organisation – in der Form des Privatrechts wahrnimmt, an die Grundrechte, die sonstigen Verfassungsnormen, die allgemeinen Verwaltungsgrundsätze und die Kompetenzvorschriften gebunden ist. Ihm stehen zwar die privatrechtlichen Rechtsformen zur Verfügung, aber nur überlagert und modifiziert durch die vorrangig geltenden Vorschriften des öffentlichen Rechts. *16 Er ist auch insoweit grundrechtsverpflichtet, nicht grundrechtsberechtigt. Daher kann er sich auch nicht auf die grundrechtlich gewährleistete Privatautonomie berufen.

Im Übrigen ist zu beachten, dass in den Bereichen, in denen die Verwaltung auf die Anwendung einseitiger hoheitlicher Zwangsmittel zur Durchsetzung ihrer Forderungen angewiesen ist, etwa im Bereich der Polizei oder der Steuerverwaltung, die privatrechtlichen Rechtsformen ohnehin nicht weiterführen.

Bei der funktionalen Privatisierung geht es um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Verwaltung private Unternehmer in den tatsächlichen Vollzug der ihr obliegenden Verwaltungsaufgaben einbeziehen darf. Grundsätzlich bestehen keine rechtlichen Bedenken, wenn sie bestimmte Tatbeiträge, etwa das Abschleppen verkehrswidrig parkender Kraftfahrzeuge, die Errichtung einer Abwasseranlage usw., nicht selbst erbringt, sondern privaten Unternehmern als sog. Verwaltungshelfer überträgt. Erforderlich ist nur, dass sie die ordnungsgemäße Erledigung der Verwaltungshilfe sicherstellt, indem sie nicht nur fachkundige, leistungsfähige und zuverlässige Unternehmer auswählt, sondern dann auch ihre Tätigkeit überwacht und ggf. eingreift. *17 Da in der Regel mehrere Bewerber auftreten, spielt die Auswahl eine erhebliche Rolle, nicht nur für die Verwaltung, die einen qualifizierten Unternehmer sucht, sondern auch für die Bewerber, die an einem solchen Auftrag aus wirtschaftlichen Gründen interessiert sind. Das führt in den Bereich des Vergaberechts, der sich aufgrund europarechtlicher Vorgaben als neues Rechtsgebiet herausgebildet hat. Es wird für größerer Projekte verfahrensrechtlich und materiell-rechtlich durch das Kartellvergaberecht (§§ 97 ff. GWB) ausreichend geregelt, während für die übrigen Projekte nach wie vor nur haushaltsrechtliche Vorschriften bestehen, die insoweit noch erhebliche Lücken und Defizite aufweisen, über den Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) aber doch noch gewisse Konturen erlangen. *18

Die materielle Privatisierung, die Verlagerung von Verwaltungsaufgaben auf den wirtschaftlich-gesellschaftlichen Bereich, ist die eigentliche Form der Privatisierung und auch meistens gemeint, wenn allgemein und undifferenziert von der „Privatisierung“ gesprochen wird. Sie führt zu der Frage, ob und inwieweit der Staat befugt ist, bislang wahrgenommene Aufgaben oder Aufgabenfelder dem privatrechtlichen Bereich zu übertragen oder zu überlassen. Diese Frage soll im Folgenden eingehender behandelt werden. *19

3.2. Weitere Differenzierungen

Vorweg ist noch zu bemerken, dass die Privatisierung in allen diesen Fällen, insbesondere im dritten Fall, nicht isoliert und eindimensional gesehen werden darf, sondern in ihren größeren Zusammenhängen mit ihren Alternativen betrachtet und beurteilt werden muss.

Zunächst ist zu unterscheiden zwischen der Privatisierung als Vorgang und Verfahrensakt und der Privatisierung als Rechtsänderung, die die zu einer neuen Rechtslage führt. Beide bedingen sich gegenseitig, unterscheiden sich aber durch Form und Inhalt, nach Weg und Ziel. Bei der rechtlichen Beurteilung sind beide zunächst für sich zu betrachten. Erweist sich einer der beiden Akte, der Privatisierungsakt oder das Privatisierungsergebnis, als rechtswidrig, so dürfte in der Regel die Gesamtprivatisierung gescheitert sein.

Ferner ist zu unterscheiden zwischen dem Privatisierungsrecht und dem Privatisierungsfolgenrecht. *20 Während das Privatisierungsrecht die Privatisierung selbst als Maßnahme und Ergebnis betrifft, befasst sich das Privatisierungsfolgenrecht mit den weiteren Konsequenzen der Privatisierung. Grundsätzlich gelten nach der erfolgten Privatisierung die rechtlichen Vorschriften, die für die neue Rechtslage maßgebend sind, etwa im Falle der materiellen Privatisierung das zwischen den Privatunternehmer und seinen Kunden maßgebliche Privatrecht. Indessen zeigt sich immer wieder, dass durch die Privatisierung neue und besondere Probleme entstehen, die einer spezifischen Regelung bedürfen. Darauf beruht auch die Gewährleistungsverwaltung. *21 Wenn der Staat die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben, insbesondere die Erbringung bestimmter Leistungen zur Versorgung der Bevölkerung privaten Unternehmern überträgt oder überlässt, dann muss er erforderlichenfalls gewährleisten, dass der privatwirtschaftliche Bereich diese Leistungen in ausreichendem Maß und zu vertretbaren Preisen bereitstellt.

Von erheblicher Bedeutung ist schließlich noch, dass die Privatisierung im konkreten Fall ex ante oder ex post betrachtet werden kann. Im ersten Fall geht es darum, ob und unter welchen rechtlichen Voraussetzungen eine geplante Privatisierung durchgeführt werden kann. Die privatisierungswillige Verwaltung hat also die Möglichkeit, unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben und unter Ausnutzung der bestehenden Spielräume die oder zumindest eine erwünschte Privatisierung zu erreichen. Im zweiten Fall geht es darum, ob die erfolgte Privatisierung mit dem geltenden Recht im Einklang steht und daher zulässig ist. Ist das nicht der Fall, dann kann die Verwaltung allenfalls noch nachbessern oder die Defizite im Wege des Privatisierungsfolgenrechts auffangen. *22

4. Die Grenzen der materiellen Privatisierung ­insbesondere

4.1. Begriff und Abgrenzung der Staatsaufgaben

Während sich bei der formellen Privatisierung lediglich die Formen staatlichen Handelns ändern und bei der funktionalen Privatisierung lediglich Privatunternehmer in den tatsächlichen Vollzug staatlichen Handelns einbezogen werden, geht es bei der materiellen Privatisierung, wie dargelegt wurde, um die Verlagerung bislang vom Staat wahrgenommener Aufgaben in den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bereich. Damit rückt der Begriff der Staatsaufgaben in den Vordergrund. Es geht um die Frage, welche Aufgaben der Staat selbst wahrnehmen muss und welche er unter welchen Voraussetzungen dem gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bereich überlassen darf oder sogar überlassen muss.

Das Grundgesetz enthält – wie fast alle Verfassungen – keinen Katalog von Staatsaufgaben. Auch die allgemeine Staatslehre, die sich schon seit langem bemüht, unabhängig von konkreten Verfassungen typische Staatsaufgaben herauszustellen, ist zu keinem allgemein anerkannten Ergebnis gekommen. Das ist auch verständlich; denn die Aufgaben des Staates hängen von den jeweils maßgeblichen Verhältnissen und Bedingungen ab und lassen sich daher nicht ein für allemal festlegen. Die Bemühungen der Staatslehre sind damit aber gleichwohl icht nutzlos. Sie können durch ihre Systematisierung Orientierungshilfen geben und damit zum Verständnis beitragen.

Danach ist zwischen den Staatsaufgaben, den öffentlichen Aufgaben und den privaten Angelegenheiten zu unterschieden. *23 Zu den öffentlichen Aufgaben gehören die Angelegenheiten, die einen Gemeinwohlbezug aufweisen und daher im öffentlichen Interesse liegen.

Die Staatsaufgaben bilden einen Teil der öffentlichen Aufgaben; es sind die vom Staat wahrgenommenen Aufgaben, wobei weiter danach zu unterscheiden ist, ob sie dem Staat vorbehalten sind (ausschließliche Staatsaufgaben) oder ob sie – auch – von Personen und Organisationen des gesellschaftlichen Bereichs übernommen werden können (konkurrierende Staatsaufgaben). *24 Die Grenzen der Staatsaufgaben sind dort erreicht, wo das öffentliche Interesse als Legitimationsgrundlage staatlichen Handelns fehlt und nur noch Partikularinteressen verfolgt werden. Öffentliche Aufgaben, d.h. im öffentlichen Interesse liegenden Aufgaben, können aber auch im gesellschaftlich-privatwirtschaftlichen Bereich wahrgenommen werden, sei es gezielt und unmittelbar, sei es mittelbar im Rahmen ihrer eigennützigen Tätigkeit. Die Grenze liegt dort, wo der Bereich der staatsvorbehaltenen Aufgaben beginnt. Bildlich betrachtet stellen die staatliche Tätigkeit und die gesellschaftliche Tätigkeit zwei sich überschneidende Kreise dar. Die gemeinsame Schnittfläche ist der Bereich, der der materiellen Privatisierung offen steht.

Diese noch sehr theoretischen Überlegungen führen nun zur entscheidenden Frage, was zu den staatlichen Aufgaben, insbesondere den dem Staat vorbehaltenen Aufgaben gehört. Geht man davon aus, dass im freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat die Staatsgewalt nicht vorgegeben ist, sondern durch die Verfassung konstituiert wird, jedenfalls die Kompetenzen und Befugnisse der staatlichen Organe durch die Verfassung bestimmt werden, dann müssen sich auch die dem Staat zustehenden und vorbehaltenen Aufgaben aus der Verfassung selbst ergeben. *25 Die Hinweise auf die Tradition, den Kernbereich staatlicher Aufgaben, die Natur der Sache, die Eigenheiten der jeweiligen Aufgabe usw. genügt somit nicht, wenngleich – hier wie auch sonst – die Verfassungsauslegung nicht rein abstrakt, sondern im Blick auf die Wirklichkeit und die Gegebenheiten ausgelegt werden muss.

Es ist somit zu prüfen, welche Gemeinwohlaufgaben nach der Verfassung dem Staat zugewiesen werden und damit privatisierungsresistent sind und welche auch dem gesellschaftlichen Bereich überlassen werden dürfen und daher privatisierbar sind. Die verfassungsrechtliche Prüfung erstreckt sich – in drei Schritten – zunächst auf die verfassungsrechtlichen Regelungen, die ausdrücklich oder konkludent eine Privatisierung zulassen oder ausschließen, dann auf die verfassungsrechtlichen Regelungen, die die Privatisierung nicht eigens regeln, aber Rückschlüsse auf die Privatisierung zulassen, und schließlich auf die allgemeinen Verfassungsgrundsätze und die sich aus ihnen für die Privatisierung ergebenden Grenzen.

4.2. Privatisierungsvorschriften im Grundgesetz

Das Grundgesetz, die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, enthielt in seiner ursprünglichen Fassung von 1949 keine ausdrücklichen Regelungen über die Privatisierung. Das war damals noch kein Thema. Im Gegenteil, damals wurde noch über die die Sozialisierung diskutiert und in Art. 15 GG – allerdings bewusst zurückhaltend – bestimmt, dass der Gesetzgeber Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung gegen Entschädigung in Gemeineigentum überführen könne. Diese Bestimmung erlangte indessen keine praktische Bedeutung und konnte sie im Rahmen der grundrechtlich gewährleisteten freien Wirtschaftsordnung auch nicht erlangen. *26

Erst in den 1990er Jahren wurden Privatisierungsregelungen in das Grundgesetz aufgenommen, die jedoch keine allgemeinen Aussagen zu Privatisierung brachten, sondern nur die Privatisierung bestimmter Bundesunternehmen festlegten. *27 Ihre verfassungsrechtliche Regelung war schon deshalb erforderlich, weil die ursprüngliche Fassung des Grundgesetzes bestimmte, dass diese Bundsunternehmen „in bundeseigener Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau“ geführt werden *28 , und deshalb eine entsprechende Verfassungsänderung geboten war. Bemerkenswert ist, dass sich das Grundgesetz in diesen Fällen nicht auf die Privatisierung als solche beschränkte, sondern wesentliche Vorgaben für die zu privatisierenden Unternehmen machte. Interessant ist auch Art. 87 d I 2 GG in der Fassung vom 22.07.1992, der für die Luftverkehrsverwaltung zwar eine formelle Privatisierung, aber keine materielle Privatisierung zulässt und letztere damit ausschließt. *29

Im Übrigen enthält das Grundgesetz weder ein Privatisierungsgebot noch ein Privatisierungsverbot. *30 Daher ist die einfach-gesetzliche Privatisierung zulässig, sofern im Einzelfall die weiteren, noch zu erörternden Voraussetzungen vorliegen. Ob eine spezielle gesetzliche Grundlage erforderlich ist, ist fraglich. Meistens ergibt sie sich dies schon aus der Notwendigkeit die bislang bestehenden gesetzlichen Vorschriften entsprechend zu ändern. Ansonsten bestimmt sich diese Frage nach den allgemeinen Regelungen über den Gesetzesvorbehalt und der vom BVerfG entwickelten Wesentlichkeitstheorie. *31 Tatsächlich bestehen auch solche gesetzliche Bestimmungen. Es sei nur beispielhaft auf die funktionale und materielle Privatisierung im Bereich der Abfallentsorgung verwiesen. *32 Bemerkenswert ist ferner § 7 I BHO, der die zuständigen Organe verpflichtet, bei der Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplanes die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten und dann fortfährt: „diese Grundsätze verpflichten zur Prüfung, inwieweit staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten durch Ausgliederung und Entstaatlichung oder Privatisierung erfüllt werden können“. *33 Damit wird zwar keine Privatisierungspflicht, aber doch eine Privatisierungsprüfungspflicht begründet, die zugleich eine entsprechende Ermächtigung enthält. *34 Im Kommunalrecht finden sich entsprechende Vorschriften für die Gemeinden. *35

4.3. Mittelbare Privatisierungsfragen

Im Grundgesetz gibt es weiterhin Vorschriften, die zwar die Privatisierung nicht ausdrücklich benennen und regeln, aber doch Rückschlüsse für die Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit der materiellen Privatisierung ermöglichen. Dazu gehören zum einen die Vorschriften über die Kompetenzen und die Organisation der Bundesverwaltung, die im 8. Abschnitt des Grundgesetzes (Art. 83 ff. GG) enthalten sind, und zum anderen der sog. Funktionsvorbehalt des Art. 33 IV GG.

Die Kompetenz- und Organisationsregelungen der Art. 83 ff GG ergeben sich aus dem föderalistischem Aufbau der Bundesrepublik Deutschland, die auch eine Abgrenzung der Verwaltungsbereiche des Bundes und der Länder erfordern. Nach der allgemeinen Verteilungsregelung des Art. 30, 83 GG sind die Länder zuständig, sofern das Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt. Die anderweitigen Bestimmungen finden sich vor allem in den Art. 86 ff. GG. Das Grundgesetz beschränkt sich dabei aber nicht auf einzelnen Bundeszuweisungen, sondern bringt bei dieser Gelegenheit auch Vorschriften über die Organisation der Bundesverwaltung und die Art des Bundesvollzuges. Dadurch entsteht ein komplexes Gebilde von Zuständigkeits-, Organisations- und Verfahrensregelungen, die hier nicht weiter entfaltet werden können. Immerhin lässt sich im Blick auf die Privatisierung folgendes sagen *36 : Soweit dem Bund oder den Ländern bestimmte Verwaltungsaufgaben zugewiesen werden, handelt es sich um Staatsaufgaben, die von den jeweiligen Verwaltungsträgern wahrgenommen werden können oder sogar müssen. Denn es wäre widersinnig, Kompetenzen zu begründen, die mangels Inhalt leer laufen. Ferner ist aus der Bestimmung, dass gewisse Verwaltungsaufgaben „in bundeseigener Verwaltung“ oder sogar „in bundeseigener Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau“ geführt werden *37 , zu folgern, dass eine Verlagerung der Verwaltungsaufgabe in den privatwirtschaftlichen Bereich ausgeschlossen ist. Des weiteren ist noch darauf hinzuweisen, dass dann, wenn der Bund eine sog. fakultative Bundeszuständigkeit *38 nicht übernimmt, die Angelegenheit nicht in den gesellschaftlichen Bereich, sondern nach der allgemeinen Regelung in den Landesbereich fällt; nur wenn auch die Länder nicht tätig werden und tätig werden müssen, liegt ein Fall der (stillschweigenden) materiellen Privatisierung vor. *39

Die durch die Kompetenz- und Organisationsregelungen des Grundgesetzes gezogenen Grenzen für die materielle Privatisierung sind danach ziemlich eng. Wesentlich weitergehende Spielräume bestehen für die formelle und die funktionale Privatisierung, jedenfalls dann, wenn die erforderlichen Einflussmöglichkeiten gewährleistet sind. *40 Insgesamt ist aber zu beachten, dass das System der Art. 83 ff. GG zu einer Zeit konzipiert worden ist, als die Privatisierung noch kein Thema war. *41 Das legitimiert zu Weiterentwicklungen, ohne die verfassungsrechtlichen Grundlagen zu verlassen.

Der Funktionsvorbehalt des Art. 33 IV GG , der eine Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts darstellt *42 , besagt, dass die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Berufsbeamten zu übertragen ist. Er stellt eine institutionelle Garantie des Beamtentums im Interesse einer fachlich qualifizierten, unparteiischen, zuverlässigen und rechtgebundenen Erledigung hoheitlicher Aufgaben dar. Im Einzelnen ist die Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift noch umstritten. Hier stellt sich nur die Frage, ob Art. 33 IV GG eine „Privatisierungsschranke“ bildet, wie in der Literatur verschiedentlich angenommen wird. *43 Das ist zu verneinen. Art. 33 IVGG geht von der Unterscheidung zwischen den in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehenden Beamten einerseits und den in einem privatrechtlichen Dienstverhältnis stehenden Angestellten und Arbeiter des Staates andererseits aus und bestimmt, dass die hoheitsrechtlichen Aufgaben in der Regel von Beamten wahrgenommen werden müssen. Die Frage der Privatisierung liegt im Vorfeld. Wird sie nach den allgemeinen Regeln abgelehnt, dann greift Art. 33 IV GG, der sich auf die Wahrnehmung hoheitsrechtlicher Befugnisse bezieht, nicht ein. Wenn überhaupt, dann käme nur eine Beleihung in Betracht, die aber gerade keine Privatisierung darstellt. *44

4.4. Folgerungen aus allgemeinen Verfassungsprinzipien

Da das Grundgesetz expressis verbis relativ wenig zur Privatisierung aussagt, ist nun auf die allgemeinen Verfassungsgrundsätze zurückzugreifen.

 

4.4.1. Rechtsstaatsprinzip

Das Rechtsstaatsprinzip findet nicht nur in zahlreichen Einzelbestimmungen des Grundgesetzes seinen positiv-rechtlichen Niederschlag, sondern stellt auch einen tragenden und übergreifenden Grundsatz der Verfassungsordnung dar. *45 Er verwirklicht sich in zahlreichen Ausprägungen. Eine wesentliche rechtsstaatliche Forderung bildet die Pflicht des Staates zur Aufrechterhaltung und Sicherung der Rechts- und Friedensordnung im Innern. *46 Der neuzeitliche Staat, der sich im 16./17. Jahrhundert herausgebildet hat, wird vor allem durch diese Funktion konstituiert und immer wieder neu herausgefordert. Entsprechend seinem Auftrag zur Friedenssicherung verpflichtet der Staat die Bürger, auf Gewaltanwendung und Selbsthilfe zu verzichten, kann dies aber nur überzeugend tun, wenn und weil er den in ihren Rechten bedrohten oder verletzen Bürgern seinen Schutz anbietet und gewährt. Das oft zitierte „Gewaltmonopol des Staates“ ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Durchsetzung der Rechts- und Friedensordnung, die ihrerseits selbst rechtsstaatlich gebunden sind. Daraus folgt, dass der Staat stets in der Lage und bereit sein muss, die entsprechenden Vorkehrungen und Einrichtungen für seine friedenssichernden Aufgaben zu treffen und zu erhalten. Das Polizeiwesen, die Gerichtsbarkeit, der Strafvollzug, die Verwaltungsstrukturen und das Finanzwesen sind dementsprechend ausschließliche Staatsaufgaben und daher nicht privatisierbar. Das gilt umso mehr, als die Erledigung dieser Aufgaben häufig den Einsatz hoheitlicher, erforderlichenfalls auch zwangsweise durchsetzbarer Mittel, eben die Anwendung des Gewaltmonopols, fordert. Der Staatsvorbehalt besteht jedenfalls für den Kernbestand dieser Aufgabenbereiche. Dagegen können Randbereiche und Serviceleistungen, etwa die Unterhaltung von Gebäuden, privaten Unternehmern überlassen bleiben.

 

4.4.2. Sozialstaatsprinzip

In der modernen Industrie- und Massengesellschaft sind die Bürger in erheblichem Umfang auf Leistungen und Güter existentieller, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art angewiesen. Sie werden weitgehend durch Privatunternehmer des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bereichs nach den Regeln des Marktes und des Wettbewerbes erbracht. Der Staat kann die Bürger darauf verweisen, zumal er seinen Bedarf ebenfalls am Markt deckt. Der Staat kann sich aber darauf nicht beschränken. Die gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen der letzen 100 Jahre und die verfassungsrechtlich festgelegte Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit fordern ihn immer mehr heraus. *47 Aus dem formellen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts ist der soziale Rechtsstaat des 20. Jahrhunderts geworden, der Rechtsstaat und Sozialstaat miteinander verbindet. Der Sozialstaat wird zum Leistungsstaat; er hat – zumal im Bereich der Daseinsvorsorge – finanzielle Leistungen zu gewähren (Fürsorgeleistungen, Ausbildungsbeihilfen, Subventionen) sowie Einrichtungen zu schaffen und zu betreiben (Wasserversorgung, Personennahverkehr, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Theater, usw.). Aber auch die Leistungsfähigkeit des Staates stößt auf Grenzen. Es liegt deshalb nahe, auf die Privatisierung auszuweichen. Sie muss jedoch sozialstaatlich verträglich sein. Der Staat darf sich nicht ganz zurückziehen. Er muss reagieren, wenn die immanenten Regeln des Marktes und des Wettbewerbs verzerrt oder ignoriert werden, wenn notwendige Leistungen für den Bürger nicht unter angemessenen Bedingungen dargeboten werden, wenn die Grundversorgung der Bevölkerung mangelhaft ist, wenn also die (geplante oder erfolgte) Privatisierung nicht dem Sozialstaatsgebot entspricht. Das kann dadurch geschehen, dass der Staat auf die Privatisierung eines bestimmten Vorhabens oder eines bestimmten Bereichs ganz verzichtet, oder aber dadurch, dass er zwar die Privatisierung hinnimmt, zugleich aber durch entsprechende gesetzliche Regelungen oder verwaltungsrechtliche Maßnahmen die Sozialverträglichkeit der Privatisierung gewährleistet.

Die Privatisierung der Post und der Telekommunikation bietet dafür ein – sogar verfassungsrechtlich fundiertes – Beispiel. Nach Art. 87 f I GG muss der Bundesgesetzgeber im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation „flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen“ gewährleisten. *48 Die Bezeichnung „angemessen“ bezieht sich auf die Qualität, die Bezeichnung „ausreichend“ bezieht sich auf die Quantität und die Bezeichnung „flächendeckend“ bezieht sich territorial auf das gesamte Gebiet. Das Grundgesetz gewährleistet also eine qualitativ angemessene, quantitativ ausreichende und das gesamte Bundesgebiet abdeckende Post und Telekommunikation.

Der Staat übernimmt damit die Gewährleistungsverantwortung. Die staatliche Leistungsverwaltung mutiert durch die Privatisierung zur staatlichen Gewährleistungsverwaltung. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es beim Staat liegt, ob er die sozialstaatlich bedingten Leistungen selbst erbringt oder durch Private erbringen lässt; er muss aber jedenfalls in Reserve stehen und dann, wenn die Leistungen nicht mehr dem gebotenen Niveau entsprechen, subsidiär eingreifen.

4.4.3. Grundrechte

Die Grundrechte sind vor allem Abwehrrechte. Insofern werden sie allenfalls aktuell, wenn sich Privatunternehmer gegen die wirtschaftliche Tätigkeit des Staates zur Wehr setzen möchte. Das scheitert indessen in der Regel daran, dass Art. 12 I GG, der die Berufs- und Gewerbefreiheit garantiert, keinen Konkurrenzschutz gewährt, solange sich der Staat an die Funktionsbedingungen des Wettbewerbs hält. *49 Nach der Rechtsprechung des BVerfG und der h. L. begründen die Grundrechte jedoch nicht nur Abwehransprüche, sondern auch Schutz- und Fürsorgeansprüche. *50 Sie führen zwar selten zum Ergebnis, können aber durchaus praktisch relevant werden. Das zeigt z. B. die Wasserversorgung. Da das Wasser nicht nur ein Wirtschaftsgut ist, sondern für das Leben und die Gesundheit der Menschen elementare Bedeutung besitzt, muss der Staat aufgrund des Art. 2 II GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip eine angemessene, ausreichende und flächendeckende Wasserversorgung, die auch den hygienischen und ökonomischen Voraussetzungen entspricht, gewährleisten. *51 Daraus dürfte auch folgen, dass die materielle Privatisierung der Wasserversorgung unzulässig ist.

4.4.4. Demokratieprinzip

Das Demokratieprinzip verlangt u. a., dass die Organe und Personen, die staatliche Aufgaben wahrnehmen, demokratisch legitimiert sind, d. h. dass sie einerseits ihre Berufung letztlich – vermittelt durch andere Organe – auf das unmittelbar vom Volk gewählte Parlament zurückführen können und dass sie andererseits in umgekehrter Richtung von der parlamentarischen Kontrolle erfasst werden. Diese Voraussetzung ist bei der Aufgabenprivatisierung offensichtlich nicht gegeben; sie kann auch nicht gegeben sein, weil bei ihr die organisatorische und funktionelle Einbindung in den staatlichen Bereich entfällt. *52 Daraus folgt, dass auch in demokratisch-parlamentarischer Sicht zwar die Privatisierung öffentlicher Aufgaben, nicht aber die staatlicher Aufgaben zulässig ist.

Zusammenfassend ist als Leitlinie festzuhalten:

−   Die Aufgaben der Ordnungs- und Abgabenverwaltung und damit der Eingriffsverwaltung sind grundsätzlich nicht privatisierbar. Ausnahmen bestehen lediglich für Randbereiche und Serviceleitungen.

−   Die Aufgaben der Leistungsverwaltung sind dagegen privatisierbar. Der Staat wird dadurch aber nicht ganz von seiner Verantwortung entlastet. Er hat vielmehr die angemessene, ausreichende und flächendeckende Erledigung der zuvor von ihm wahrgenommen Aufgaben zu gewährleisten, wenn dies im öffentlichen Interesse geboten ist. Aus der Leistungsverwaltung wird die Gewährleistungsverwaltung.

−          Die eingangs dargestellten Privatisierungsformen stellen vornehmlich theoretische Denkmodelle dar. In der Praxis finden sich zahlreiche Modifikationen und Verknüpfungen, die letztlich doch wieder auf die Grundformen zurückgeführt werden können. Grundtenor ist die arbeitsteilige und kooperative Zusammenarbeit von Staat und Privaten, die den jeweiligen Situationen unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben angepasst werden müssen.

PDF

pp.4-13