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JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

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Law in Europe and Its Vicinity

24/2016
ISBN 978-9985-870-36-5

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Europäische Identität und Ethik. Überlegungen zu ethischen Grundlagen der europäischen Rechtsprechung

Der Artikel versucht eine Antwort auf die Frage zu finden: „Was versteht man unter der europäischen Identität und Ethik sowie in welchem Zusammenhang steht das mit ethischen Grundlagen der europäischen Rechtsprechung?“ und er setzt sich zuerst mit den europäischen Identitätsfragen auseinander und danach analysiert er die ausgewählten Aspekte der Ethik in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EuGMR). Der Artikel wurde vor dem Brexit geschrieben und hat bereits dann auf eine fragliche Identitätsfrage Europas angedeutet. Es wird nämlich festgestellt, dass von der Begeisterung der europäischen Integration nach der Erweiterung und insbesondere Wirtschafts- und Einwandererkrise eine Enttäuschung geworden ist. Die Liebe kann nicht erzwungen werden, die Europäische Union (EU) leidet auch unter einer sozialen und Identitätskrise. Europa gibt keine Antworten mehr auf Probleme, sondern ist nicht selten selbst die Ursache von Problemen. Es gibt nicht mehr das alte Europa, die europäischen Völker bestehen längst nicht mehr aus traditionellen Nationen und Glauben, es gibt die Frage der Kopftücher, des Extremismus, man will die Nation-Staaten verstärken, die Bevölkerung veraltet, dadurch verschäft sich auch das demographische Problem in Europa. Dabei hat sich aber leider die EU von den Bürgern entfernt und ist das Ding an sich geworden. Jedoch als unikales Modell, sollte die EU keinen Anspruch haben, etwas zu werden, was den bereits existierenden Staatsstrukturen oder den internationalen Organisationen ähnlich ist. Die EU sollte anstreben, nicht nur auf Papier, sondern vor allem in der Wirklichkeit einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts darzustellen. Vielleicht sollte man aufgeben, mit Kraft eine europäische Identität durchsetzen und stattdessen die wiedererwachende nationale Identität ernst nehmen, ehrlich über Probleme reden, keine Scheinunion kultivieren. Die Identität lieber mit den Menschenrechten verbinden, denn die Letzten sind das Wichtigste für eine Identität. Europa muss verständlich und menschlich sein. Die Ethik spielt hier eine bedeutende Rolle, es kann beides: ein Grund einer Ausnahme der Anwendung eines Rechtes, aber auch ein Grundstein einer europäischen Norm sein. Was ist wichtig, ist eine gute Ausbildung, eine „open mind“ zu haben, eine innerlich gewachsene Kultur und Ethik in der Familie, in der Schule, es muss nicht unbedingt eine „europäische Ethik“ als solche geben. Hauptsache ist, dass die Ethik ein Teil der Ausbildung ist, dass man über die Vergangenheit und Traditionen redet und gleichzeitig zukunftsorientiert ist. Jemand, der gute eigene Wurzel hat und die nicht vergisst, den ein gutes starkes Zuhause und eine Familie umgeben, aber der gleichzeitig offen für andere ist, egal wo in Europa, wird vor allem ein guter Mensch und dann früher oder später irgendwann automatisch ein guter Europäer. Es ist wichtig, Europa im globalen Bild zu sehen, auch Realismus und Selbstkritik gehören dazu, am besten Kritik durch eine Außenkontrolle, die von einer bereits existierenden Institution, sowie z.B. vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgeübt wird. Aber man muss darauf achten, dass man die Menschenrechte nicht missbraucht, sowie die ethische Gründe ein neues Recht zu schaffen oder ein Bestehendes einzuschränken nicht missbraucht. Sonst besteht die Gefahr, dass die Menschenrechte devalviert werden und keiner von ihnen etwas hören will. Der Artikel gibt zahlreiche Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGMR in den folgenden Gebieten: Ethik und Politik (zwischenstaatliche Konflikte; Militäreinsätze; Flüchtlinge und Asylrecht; Nichtdiskriminierung; Glaubensfreiheit; Anfang- und Ende des Lebens; Terrorismus und Kampf dagegen; Wahlrecht); Ethik und Wirtschaft (große Unternehmer und Menschenrechte; Umweltrecht; Fälle über Schutz des Privateigentums); Ethik und Medien (Meinungsfreiheit und Schutz des Privatlebens; Internet in diesem Kontext). Der Schutz von Menschenrechten ist ein wichtiger Bestandteil für die Identität der Bürger Europas.

Keywords:

Menschenrechte; Medien und Menschenrechte.; Wirtschtaft und Menschenrechte; Politik und Menschenrechte; Probleme und Zukunft der Europäischen Union; europäische Identität; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte; Ethik

Die europäische Identität und Ethik sind eng verbunden mit dem Zustand Europas heute, mit dem was man unter „Europäer sein“ versteht. Eigentlich verspiegeln sich die ethischen und Identitätsfragen Europas deutlich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EuGMR, Straßburger Gerichtshof) in Strasbourg. Es gibt kaum Probleme, die im Leben vorkommen und die nicht von den Entscheidungen des EuGMR umfasst sind.

Über 800 Millionen Menschen aus den 47 Staaten des Europarates können sich potentiell vor dem Straßburger Gerichtshof klagen, wenn sie in ihrem Land keine Hilfe bekommen haben. In der ersten Hälfte des Jahres 2016 sind vor dem EuGMR etwa 65 000 Rechtssachen anhängig, die meisten aus der Ukraine, Russland, der Türkei, aber auch aus Italien.

Beim Entscheiden stützt sich der EuGMR vor allem auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Gewisse ethische Grundlagen sind in den Menschenrechten innewohnend. Manchmal stellt sich aber die Frage, ob die Staaten ein Menschenrecht aus ethischen, sittlichen oder moralischen Gründen einschränken können oder gibt es einen gewissen europäischen Konsensus zur bestimmten Problematik, nehmen wir z.B. gleichgeschlechtliche Ehe oder die künstliche Befruchtung? Der europäische Konsensus ermöglicht dem EuGMR gewisse europaweite ethisch-moralische Standards durchzusetzen, ohne diese selbst vorzugeben und sich dadurch dem Vorwurf auszusetzen, die Identität der Mitgliedstaaten zu missachten. *2 Es ist allerdings schwierig, die europäische Identität und Ethik zu definieren.

Was versteht man unter der europäischen Identität und Ethik und in welchem Zusammenhang steht das mit ethischen Grundlagen der europäischen Rechtsprechung? Dieser Artikel versucht auf diese Fragen zu antworten und setzt sich zuerst mit den europäischen Identitätsfragen auseinander und danach analysiert er die ausgewählten Aspekte der Ethik in der Rechtsprechung vom EuGMR.

I. Europa – von Begeisterung zur Enttäuschung.
Eine fragliche Identitätsfrage

Es wird gefragt, ob wir uns überhaupt darüber einig sind, wo sich die Grenzen Europas befinden, was wir unter Europa verstehen? Neben der Europäischen Union (EU) mit derzeitig noch 28 Mitgliedern gibt es auch den Europarat, dem 47 Staaten gehören. *3

In der griechischen Mythologie stellte Europa die Tochter des phönizischen Königs Agenor und der Telephassa dar. Zeus verliebte sich in sie und verwandelte sich in einen Stier und brachte Europa nach Kreta. Nach der Interpretation der deutschen Historikerin und Frauenforscherin Annette Kuhn konnte Zeus überhaupt erst in Verkleidung sich Europa annähern: „Liebe, so lautet die einfache Botschaft, kann nicht erzwungen werden. Da helfen alle männliche Verwandlungs- und Verstellungskünste nicht weiter.“ *4 Vielleicht gilt es auch für die Liebe, die wir heute für Europa haben, verschiedene Wahlsprüche und Werbeaktionen helfen nicht, wenn Leute sich innerlich nicht europäisch fühlen, wenn zum Beispiel die Esten oder Letten unter Patriotismus etwas ganz anderes verstehen als die Franzosen oder Deutsche. 

In der Antike betrachtete Griechenland sich als Zentrum der Welt, weder zum Europa, noch zum Asien gehörend.

Später haben sich die Römer in den Mittelpunkt der Welt gesetzt, Europa und Asien waren für sie unwichtig im Vergleich zum Römischen Imperium. Prof. für Alte Geschichte Géza Alföldy hat im 2005 an der Universität Heidelberg zum Abschluss seiner Vorlesungstätigkeit gehaltenen Vortrag auf die Ähnlichkeiten aber gleichzeitig auch auf die Unterschiede zwischen dem modernen Europa und dem alten Rom angedeutet. http://www.forum-classicum.de/artikel105­holkalfoeldy.htm (28.03.2006, heute nicht mehr zugänglich). Der Text stützt sich stark auf eine frühere Schrift des Verf.: Géza Alföldy, Das Imperium Romanum – ein Vorbild für das vereinte Europa? Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen 9, Basel 1999."> *5 Dabei hat er sich auf fünf Hauptgründe konzentriert: die ökonomischen Grundlagen; die supranationale politische Ordnung; die Verwaltungskultur; die Fähigkeit, die Völker für sich zu gewinnen ohne dass sie ihre eigene Identität aufgeben; die Kultur generell. Als Juristin wird es schwierig, der Einführung der Bedeutung des Rechts und der Rechtskultur in diese Liste der entscheidenden Komponenten einer Integration zu widerstehen. Man könnte dem europäischen Recht aus dem Vorbild des römischen Rechts sogar provokativ den Titel – ius publicum europaeum – geben. Nach Alföldy war im alten Rom die ökonomische Integration kein Motor, sondern eine Folge des politischen Zusammenschlusses, ein wichtiges Merkmal war die Verwaltungskultur. Die Mitglieder der römischen Elite waren zwar keine Visionäre, aber auch keine geistlosen Technokraten. Sie studierten Recht, Rhetorik, Griechisch und gehobenes Latein, Literatur, Geschichte, Philosophie. Jedoch kennen wir den Untergang des römischen Imperiums. Welches Schicksal wartet aber auf Europa?

Der estnische Diplomat und Außenminister Kaarel Robert Pusta hat bereits im 1926 sich folgend geäußert: “Das Glück unserer jungen Freiheit wäre erst dann vollendet, wenn aus Europa eine große demokratische Union entstehen würde und wenn die Staatsangehörigkeit Estlands gleichzeitig das Zeugnis eines Europäers wäre, das dem Rat, Hilfe und Schutz in jedem Ort von Europa ermöglicht.“ *6  

Die visionsreichen Väter der heutigen Europäischen Union, vor allem Jean Monnet, Robert Schuman und Walter Hallstein, hatten schon zwei Weltkriege durchgemacht und fanden das Wiederherstellen des Friedens und der Annäherung vor allem Frankreich-Deutschland als Grundstein der europäischen Identität. Die weiteren Generationen sahen den kalten Krieg als schreckendes Beispiel vor den Augen und haben deswegen nach dem Zerfall der eisernen Vorhang die schnelle Wiedervereinigung der alten Familienmitglieder: Ost- und West-Europa stark befürwortet. Heute hat Europa Angst vor dem Terrorismus, auch die Gefahr eines Cyber-Krieges ist nicht auszuschließen und nicht zuletzt erschreckt sich Europa vor den Ereignissen in Krim und Ost-Ukraine. Brauchen wir jedes Mal tatsächlich eine Gefahr, um uns zu mobilisieren oder hilft sogar das nicht mehr?

Gegenwärtig steckt Griechenland wieder im Mittelpunkt, jedoch leider im Mittelpunkt der euro­päischen Wirtschaftskrise. Griechenland und Italien können nicht mehr alle Flüchtlingen aufnehmen, so dass das Thema der Asylquoten in der Europäischen Union brennend geworden ist.

Allerdings vor 10 bis 20 Jahren haben sich die Leute in Estland darauf gefreut, endlich wieder ein Teil Europas zu werden. Wir waren wieder frei, nach jahrelangen Überleben, wo unser einziger Trost und unsere Stärke das Beibehalten unserer Kultur, Sprache, Sängerfesttraditionen waren. Wie große Hoffnungen und Träume wir hatten, dass die europäische Integration gleichzeitig mit der Erweiterung tatsächlich möglich ist. Ich selber habe mit einem großen Interesse das Europarecht in Deutschland studiert, alle Wege waren für Jugendliche offen dem wieder-selbstständigen Staat weiterzuhelfen, am Wiederaufbau teilzunehmen. Sicherlich waren wir auch pragmatisch, aber wir wollten nur als Rechtsstaat und aus freiem Willen der estnischen Bevölkerung der Europäischen Union beitreten, nur zu einer solchen Union gehören, die auch selbst an die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit glaubt und diese Prinzipien respektiert.

Der ehemalige Präsident Frankreichs, Mitglied des Verfassungsrates und Präsident des Europäischen Konvents Valerie Giscard d’Estaign hat noch im Jahre 2006 in seiner Humboldt-Rede zu Europa gesagt, dass sich europäisch zu fühlen auch das bedeutet, was man an Europa gibt, nicht nur was man davon bekommt. *7 Er führte fort: Niemand hat je von uns gefordert, in öffentlichen Einrichtungen die Europafahne aufzuhängen. Und trotzdem weht sie nun über den Dächern Berlins, Paris oder Roms.

Sieben Jahre später, Ende 2013 Anfang 2014 hat in Kiew auf dem Maidan Platz auch die Europäische Fahne geweht und die Freiheit, Wohlstand und Rechtsstaatlichkeit symbolisiert, man hat gehofft, dass Europa die Ukrainer nicht im Stich lässt. Aber in der Europäischen Union selbst war zu dieser Zeit bereits die Europa-Begeisterung fast gestorben. Immer mehr enttäuschen sich die Leute in Europa. In Europa mangelt es sich an Leidenschaft, es gibt kein Enthusiasmus mehr. *8 Was fehlt ist eine Vision. Leider existiert wieder ein „ich, ein Ego“, statt „uns“, statt „wir gemeinsam.“ Der französische Wirtschaftsexperte Robert Salais hat in einer europäischen Debatte in Strasbourg im 2014 gemeint, dass das europäische Projekt nicht als etwas Selbständiges betrachtet wird, sondern nur als etwas, das den eigenen Interessen jedes einzelnen Staates dienen soll. *9 Die EU leidet nicht nur unter der Wirtschaftskrise, aber auch unter einer sozialen und Identitätskrise. Europa gibt nicht mehr Antworte auf Probleme, sondern ist nicht selten selbst die Ursache von Problemen. Es gibt nicht mehr das alte Europa, die europäischen Völker bestehen längst nicht mehr aus traditionellen Nationen und Glauben, es gibt die Frage der Kopftücher, des Extremismus, man will die Nation-Staaten verstärken, die Bevölkerung veraltet, damit vertieft sich auch das Problem der Demographie in Europa. Viele Aspekte haben sich geändert. Dabei hat sich aber leider die Europäische Union von den Bürgern entfernt, die Bürger nehmen zu wenig an das Entscheiden teil, die Entscheidungen sind sehr kompliziert, meistens fremd und unverständlich für die Allgemeinheit. Das Europa-Projekt hat sich nicht an die veränderten Umstände und Dynamik angepasst. Das Handeln von EU ist fragmentarisch, es gibt zu wenig Disziplin, um die Probleme zu lösen, die Verantwortung ist gestreut, die führenden Personen sind entweder nicht charismatisch genug oder haben keine eigentliche Vollmacht zum Handeln, die wirklichen Akteure bleiben weiterhin die Staatsoberhaupter der mächtigsten Ländern Europas.

Es sind die Lüsternheit, die Oberflächlichkeit die mich persönlich besonders stören. Der Papst Franziskus hat während seines Besuchs beim Europaparlament in Strasbourg im November 2014 es die globale Gleichgültigkeit genannt und uns alle davor gewarnt. *10 Besonders bedauerlich ist, dass Europa, anstatt sich an die höchsten gemeinsamen Nenner zu orientieren, auf das niedrigste Niveau ihres Durchschnitts als Maßstabe nimmt, sei es z.B. im Schutz der Menschenrechte oder der Umwelt.

Wir wohnen hier und jetzt ohne Vergangenheit, aber auch ohne Zukunft. Jedoch eure Vergangenheit ist unsere Vergangenheit und unsere Vergangenheit Eure. Wir dürfen die Vergangenheit nicht vergessen, aber müssen auch daran denken, dass wir für die künftigen Generationen den Weg vorbereiten. Deswegen ist es wichtig, die Zukunft ohne Nostalgie und Furcht global und systematisch zu begegnen.

Als ich in Deutschland studierte und da auch andere Studenten, unter anderem aus Russland kennenlernte, war es für mich sehr erstaunlich zu erfahren, wie unterschiedlich die Jugendlichen aus Deutschland und Russland die Vergangenheit betrachteten, was sie unter Vergangenheitsbewältigung verstanden haben. Ich hatte das Gefühl, dass man den russischen Studenten zu Hause gar nicht beigebracht hat, das viele Russen auch selbst unter dem Regime von Stalin und seinen Nachfolgen gelitten haben, dass das System trotz des Kriegsgewinnes die Verantwortung von Deportationen und Unmenschlichkeiten tragen sollte. 

Anderseits hat mich vor kurzem die Reaktion von einem russisch stämmigen Mann aus Ost-Estland, Narwa, bewundert: der ehemalige Aktivist, der Anfang 1990er Jahren ein Referendum um den Austritt von Narwa aus Estland und die Annäherung an Russland befürwortete, hat mehr als zwanzig Jahre später seine Meinung völlig geändert und vor kurzem im März 2015 dem Economist vertraut, dass er heute an sowas nie denken würde und die Hoffnung ausgedrückt, dass auf Narwa nie das Krim-Schicksal wartet. *11 Weil heute in Estland einfach das Lebensstandard so viel besser sei und das Land dem NATO und der EU gehört. Kann man daraus schließen, dass wenn nicht Pathos, zumindest Pragmatik sich für Europa durchgesetzt hat?

Es ist allerdings zu fürchten, dass generell die europäische Identitätsfrage sich gewissermaßen gescheitert hat, es ist zumindest fraglich geworden. Eine europäische Wertegemeinschaft bedeutet so zusammen zu leben, dass man unter der Identität versteht, auch die Diversität anzuerkennen, dass man mit der Diversität zu leben versucht, um daraus und aus einer Multiidentität einen Vorteil zu schaffen. Am Besten sollten wir versuchen zu vermeiden, dass die europäische Identität mit dem Nationalen im Widerspruch steht. Die Europäische Union ist das Ding an sich geworden.

Diejenige, die bereits das Ende der Sowjetunion gesehen und erlebt haben, obwohl die Europäische Union gar nicht mit der Sowjetischen vergleichbar ist, können durchaus vermuten, dass heute der Kollaps der EU vielleicht doch nicht ganz unwahrscheinlich ist. Wo es einen Zusammenschluss gegebenenfalls Beitritt gibt, sei es freiwillig oder gewaltig, gibt es, wenn es nicht mehr richtig funktioniert, auch früher oder wenn auch viel später einen Austritt, wenn nicht sogar einen Zusammenbruch, sei es de facto oder de jure. Die Zeitung Frankfurter Allgemeine hat ja auch bereits im Oktober 2014 über Europas Endspiel geschrieben. *12 Die Gefahr ist durch  die Ergebnissen der Volksabstimmung in Großbritannien am 23. Juni 2016 viel größer geworden. Unglaublich, wie sich alles geändert hat, wenn wir denken, dass Ende achtziger Jahren selbst der letzte Chef der Sowjetunion, Mikhail Gorbatschow das Konzept „des gemeinsamen europäischen Heimes“ benutzt hat. *13

Nachdem man die Diagnose festgestellt hat, das Europa Probleme hat, braucht man dringend ein Heilmittel und auch etwas Präventives. Wie könnte man in Europa einen neuen Schwung finden? Sollte man ganz von einem weißen Blatt anfangen, so wie z.B. derselbe Giscard d‘Estaign heute vorschlägt, jedoch, für ihn nur mit West-Europa mit Ausnahme einiger weniger Staaten aus Osten und Norden? *14

Allerdings, die Europäische Union als sui generis, als unikales Modell, sollte keinen Anspruch haben, etwas zu werden, was den bereits existierenden Staatsstrukturen oder den internationalen Organisationen ähnlich ist. Die Europäische Union sollte anstreben, nicht nur auf Papier, sondern vor allem in der Wirklich­keit einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts darzustellen. Daran gibt es aber noch viel zu arbeiten. Als Beispiele helfen uns Ausgewählte Aspekte der Ethik.

II. Ausgewählte Aspekte der Ethik.
Menschenrechte als Rettungsring

Bei den Sachverhalten die vor dem Europäischen Gerichtshof der Menschenrechte landen, habe ich ­beobachtet, wie Gefährlich die Doppelzüngigkeit, sei es in der Politik, Wirtschaft oder Medien, sein kann. ­Nehmen wir drei große Bereiche: Politik, Wirtschaft, Medien.

2.1. Ethik und Politik

In der Politik scheint es plausibel, wie sehr Europa sich für den Frieden und die Demokratie einsetzten will, jedoch hören wir gleichzeitig vom Bestehen des Risikos, dass einige Staaten den undemokratischen Machten der Welt mit Militärausrüstung unterstützen. Ist es ethisch?

Es tut weh, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Aufgabe übernehmen muss, über die Konflikte zwischen Zypern und der Türkei, Georgien und Russland, Ukraine und Russland, Moldova und Russland, den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan über Berg-Karabach, sowie über die Fälle mit Bezug zum Krieg in Kroatien und in Bosnien und Herzegowina in den 1990ger Jahren, aber auch über die Fälle mit Bezug zum internationalen Militäreinsatz in Irak zu entscheiden. *15 Im Zusammenhang mit dem Tschetschenienkonflikt wenden sich an EuGMR regelmäßig hunderte Angehörige der in Tschetschenien Verschwundenen. *16 Es tut weh, weil es diese Konflikte gab und gibt und weil man viele mit diesen Konflikten und Kriege verbunde Fragen unter anderem ohne EuGMR nicht lösen kann.

Genauso traurig ist es, wenn man einerseits in Europa spricht, wie wichtig es ist, den Flüchtlingen aus Drittstaaten zu helfen und andererseits, sie in Flüchtlingsheime in sehr schlechtem Zustand verlässt, wobei Extremismus zuständig wächst. Unter Flüchtlingen gibt es Asylbewerber, die in die Länder zurückgesandt werden, in denen ihr Leben in die Gefahr kommt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits über das sogenannte „Dublin System“ der Europäischen Union entschieden. *17 Die Dublin Verordnung etabliert den Grundsatz, dass nur ein einziger Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrages zuständig ist. Das Ziel ist, zu verhindern, dass Asylbewerber von einem Land in das Nächste geschickt werden und, dass ein Missbrauch des Systems stattfindet, indem eine einzige Person mehrere Asylanträge stellt. Der Mitgliedstaat, in den der Asylbewerber als erstes eingereist wird, muss den Asylbewerber aufnehmen und den Asylantrag prüfen, die anderen Staaten, in die der Bewerber sich inzwischen eventuell bewegt hat, müssen ihn in das erste Land, in dem er den Antrag gestellt hat, zurückschicken. Es geht vor allem um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat jedoch gewarnt: vertraue, aber überprüfe – die Menschenrechte dürfen nicht wegen Automatismus und das Funktionieren des Systems vernachlässigt werden. Auch die Staaten mit einer großen Demokratieerfahrung können Fehler machen, insbesondere wenn sie sich in einer Krise befinden. Das darf man auch bei der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in Europa nicht vergessen, das blinde Vertrauen berücksichtigt leider die konkrete Situation nicht. Die Rechte auf menschenwürdige Bedingungen und – wenn es sich um Kinder handelt – auch auf die beste Befolgung von Interessen der Kinder müssen gewährleistet werden. So hat der EuGMR z.B. in einem Fall entschieden, dass die Mängel des Asylverfahrens und die Schwierigkeiten bei der Anwendung des Dublin Systems in Griechenland hätten den belgischen Behörden bekannt sein müssen, als sie die Übersiedlung des Asylbewerbers anordneten. *18 Die belgischen Behörden hätten überprüfen müssen, wie die griechischen Behörden die maßgebliche Asylgesetzgebung in der Praxis anwenden. Dies aber hatten sie unterlassen. Deswegen stellte der EuGMR eine Doppel-Verletzung des Verbotes einer erniedrigenden Behandlung fest: Griechenland wurde wegen den Bedingungen der Flüchtlinge verurteilt und Belgien, weil es die Flüchtlinge an Griechenland zurückschicken wollte.

In einem anderen Fall hat der EUGMR wieder die Verletzung vom Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung festgestellt, als die schweizer Behörden die Beschwerdeführer in Anwendung der Dublin Verordnung nach Italien zurückschickten. *19 Die schweizer Behörden müssen angesichts der aktuellen Situation hinsichtlich des Aufnahmesystems in Italien, zunächst von den italienischen Behörden individuelle Garantien einfordern, dass die Beschwerdeführer als Familie zusammenbleiben können und dass die Kinder altersgemäß versorgt werden.

Zweifellos gibt das Thema der Flüchtlingen viel Grund für ethische Überlegungen. Aber wie kann ein Staat die Opfer der Zwangsarbeit und des Menschenhandels oder der Familiengewalt schützen und den Vätern oder Müttern helfen, derer Kinder entführt wurden? Welche Politik muss ein Staat treiben, um zu vermeiden, dass die Leute, die an friedlichen Demonstrationen teilgenommen haben, von der Staatsgewalt brutal behandelt werden.

Mit der Ethik sind auch die Fragen der Religionsfreiheit, der Nicht-Diskriminierung aus ethnischen Gründen und Rechte der Homosexuellen eng verbunden. Haben die Staaten einen Ermessensspielraum, um aus ethisch-religiösen-kunsthistorischen Gründen das Kruzifix in der öffentlichen Schule zu erlauben – Italien? *20 Oder umgekehrt, das Ermessen aus weltlichen Gründen die Burka zu verbieten – Frankreich? *21 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in konkreten Fällen bis jetzt beides bejaht. Zurzeit steht vor dem EuGMR die Frage, ob in der Türkei, die offiziell keine Amtsreligion hat, die Aleviten im Vergleich zu Sunniten diskriminiert werden, die Letzten bilden die mehrheitliche islamische Glaubensrichtung in der Türkei und bekommen finanzielle Unterstützung des Staates, die Aleviten dagegen sind bis heute nicht als religiöse Minderheit anerkannt. *22

Kann Griechenland aus der eingetragenen Partnerschaft/Lebenspartnerschaft die Gleichgeschlechtlichen ausschließen? *23 Der EuGMR hat es verneint und eine Verletzung aufgrund der Diskriminierung festgestellt, obwohl er sich noch nicht über gleichgeschlechtliche Ehe geäußert hat. Es gibt noch Fälle, wo die Staaten, z.B. Russland und Griechenland, den Homosexuellen auf der Arbeitsmarkt diskriminiert haben oder wo z.B. in Russland die HIV-Infizierte diskriminiert werden, z.B. bekommen Ausländer kein Aufenthaltserlaubnis, weil sie HIV infiziert sind. *24

Weitere, besonders wichtige ethische Fragen betreffen den Anfang und das Ende des Lebens. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist gerufen, über die Klagen der Beschwerdeführer, die ihr Leben freiwillig durch Euthanasie beenden wollen, zu entscheiden *25 , aber auch über die Klagen von denen, die über das Schicksal ihres Embryos selbst entscheiden möchten. *26

Andere, äußerst kontroverse Themen für die Regierungen der Mitgliedstaaten sind die Strafgefangenen und der Kampf gegen den Terrorismus. Auch hier wird oft eines gesagt und anders gemacht. An den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden sich sowohl diejenigen, die ihre Familien in Terroranschlägen verloren haben, als auch die im Terrorismus Verdächtigten wegen des unmenschlichen Behandelns durch die Rechtsvollzugsorganen, aber auch die Gefangenen, die in unmenschlichen Zuständen ihre Strafe verbüßen. Der Ansicht, dass auch Kriminelle Menschenrechte haben, wird nur sehr langsam akzeptiert, es ist in Gesellschaften meistens ein besonders unpopuläres Thema. So hat z.B. das Vereinigte Königreich seine Gesetzgebung fortwährend nicht geändert, die den automatischen Wahlrechtsentzug der Strafgefangenen vorsieht und den Gefangenen verbietet, auf der nationalen und europäischen Ebene zu wählen, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits mehrmals eine Verletzung des Wahlrechtes der Gefangenen festgestellt hat. *27 Unter dem Vorwand des Terrorismuskampfes versuchen die Staaten oft ihre Macht zu verstärken, z.B. durch das unbegrenzte Abhören der Bevölkerung. Auch über dieses Thema hat EuGMR z.B. gegen Russland sich geäussert. *28

2.2. Ethik und Wirtschaft

Ein weiteres Beispiel von der Doppelzüngigkeit ist, dass oft hinter den Kulissen die Wirtschaft die endgültigen Entscheidungen trifft: man darf nicht vergessen, dass neben der Staatsgewalt oft die großen Unternehmen und Korporationen die Menschenrechte verletzen können. So entstehen Kreise, in denen die wirtschaftlichen Interessen wichtiger sind als der Schutz der Menschenrechte und Umwelt. Ist das ethisch?

Der Papst Franziskus hat in seiner Rede in Straßburg uns darauf Aufmerksam gemacht, dass es wichtig ist, die eigene Identität zu kennen, bevor man mit anderen Dialoge aufnimmt, dass die Zeit reif ist, zusammen ein Europa zu bilden, wo es nicht nur um die Wirtschaft geht, sondern um die unverzichtbaren Werte. *29 Österreichische Philosophin und Wissenschaftsjournalistin Ursula Baatz hat sehr präzise über diese Situation geschrieben: „Gefährlich sind nicht die „Anderen“, sondern jene, die ein System der Gewalt durch „Wirtschaftlichkeit“ errichten. Wenn nicht Menschen, sondern Banken geschützt werden, und sich alles nur um Wirtschaft und Wachstum dreht, dann ist da kein Platz für Beziehungen, Menschenrechte, Bildung. Dann hat Europa seine Seele verloren.“ *30

Die privatwirtschaftlichen Fälle kommen nur indirekt vor den EuGMR, da es nach der Konvention hauptsächlich um die Verantwortung für die Handlungen der öffentlichen Gewalt geht. Jedoch kann der Staat auch verpflichtet sein, ihre Bürger und Bewohner vor der Verletzung der Menschenrechte und Willkür durch die Dritten, darunter durch die Privatunternehmen zu schützen. So hat der EuGMR über mehrere Fälle aus z.B. Spanien, Russland, Italien, der Türkei, Rumänien und Belgien entschieden, wegen der Umweltverschmutzungen durch Fabrik-; Stahlwerk und andere Industrieanlagen, welche Abgase, Gestank und Verunreinigungen verursacht haben, die zu Gesundheitsproblemen bei den in der Umgebung lebenden Menschen geführt haben. *31 Der EuGMR hat meistens eine Verletzung des Rechtes auf Achtung des Privatlebens festgestellt, weil die Regierungen nicht vermocht hatten, einen Ausgleich zwischen den wirtschaftlichen Interessen und dem Recht der Beschwerdeführer auf Achtung der Wohnung und ihres Privat- und Familienlebens herzustellen. Eine andere Möglichkeit, wie die Großunternehmen die Menschenrechte einschränken, ist das sie das Recht auf Beitritt oder Nichtbeitritt zu einer Gewerkschaft verletzen, auch dazu hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geäußert.

Andererseits hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über zahllose Fälle entschieden, die den Schutz des Privateigentums betreffen. Auch da können oft ethische Probleme auftauchen, z.B. wandten sich die deutschen Grundeigentümer an EuGMR, die aus ethischen Gründen nicht verpflichtet sein wollten, gegen ihren Willen die Jagdausübung auf eigenen Grundstücken zu dulden. *32

2.3. Ethik und Medien

Als der dritte Anwendungsbereich der Beispiele der Doppelzüngigkeit neben dem Handeln der Staats­politik und Wirtschaft sind die Medien zu erwähnen. Sicherlich sind hier ethische Probleme besonders auf Schau gestellt. Einerseits gibt es Journalisten, die dafür bestraft worden sind, dass sie frei ihre Meinung geäußert haben, andererseits gibt es diejenigen, deren Privatleben wegen des Missbrauchs der Journalistenethik gegen ihren Willen vor der Öffentlichkeit gebracht worden ist oder die sogar unter Hassrede leiden.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Meinungsfreiheit als Stütze der demokratischen Gesellschaft bezeichnet und der Presse die unverzichtbare Rolle als „Wachhund” der Öffentlichkeit verliehen. *33 Die Meinungsfreiheit schützt nicht nur den Inhalt von Informationen und Ideen, sondern auch die Mittel ihrer Verbreitung und auch solche Informationen und Ideen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. *34 Die Ausnahmen der Meinungsfreiheit müssen besonders eng ausgelegt werden und gründlich motiviert sein.

Dennoch ist auch die Ausübung der Meinungsfreiheit mit Pflichten und Verantwortung verbunden, sie kann daher Einschränkungen oder sogar Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft wegen nationaler Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit notwendig sind. Die Einschränkungen der Meinungsfreiheit können auch zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung erlaubt sein. *35 In der heutigen Gesellschaft haben sich die Medien zu einer tatsächlichen vierten Gewalt entwickelt. Die Medien fabrizieren oft Nachrichten, sie haben enorme Macht zu selektieren, was sie für interessant, wichtig oder eben skandalös und Berichtenswert finden, was zu einer Nachricht wird oder nicht. Deswegen ist es sehr wichtig, dass die Journalisten ethisch bleiben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass selbst die Personen des öffentlichen Lebens das Recht den Schutz des Privatlebens genießen, wenn der veröffentlichte Artikel und die Fotos nicht zur öffentlichen Diskussion beitragen und nur Klatsch und Skandal dienen, z.B. in den Fällen über die Prinzessin Caroline aus Monako. *36

Dazu kommt noch das Phänomen der sogenannten Sozialmedien im Internet, wo ein anonymer Kommentar, der mit Sekunden kolossal verbreitet werden kann, ein ganzes Leben ruinieren kann. Der EuGMR hat bereits in einem finnischen Fall eine Verletzung des Rechtes auf Achtung des Privatlebens infolge mangelnden Schutzes vor diffamierenden Kontaktanzeigen im Internet festgestellt. *37 Eine unbekannte Person hat im Internet eine Annonce geschaltet, in welcher der damals 12-jährige Beschwerdeführer intime Beziehungen zu einem gleichaltrigen oder älteren Knaben suchen soll. Aufgrund einer Kontaktaufnahme wurden die Polizei und das Gericht eingeschaltet, um den Täter zu identifizieren; das finnische Gericht hat es aber abgelehnt, den Provider zur Bekanntgabe der IP-Adresse dieser Person zu verpflichten, weil das Delikt der üblen Nachrede dies nicht erlaube. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat jedoch eine positive Verpflichtung des Staates vorgeschrieben und gemeint, dass ein praktischer und wirksamer Schutz wirksame Schritte zur Identifizierung und Strafverfolgung des Täters erfordert. Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, Rahmenbedingung für die Schlichtung solcher Ansprüche zu schaffen. Im Fall Delfi gegen Estland hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Verantwortung eines Internetportals für anonyme beleidigende Kommentare (insb. Hassrede) seiner Nutzer bekräftigt. *38   

Die Problematik der Meinungsfreiheit, Ausgleich zwischen allgemeinen/öffentlichen Interessen und dem Schutzes des Privatlebens der Anderen ist besonders delikat und benötigt meistens eine sehr zarte Abwägung von beiden Rechte und hängt viel vom konkreten Fall ab. Deshalb sind die nationalen Gerichte in erster Linie am besten platziert um diese delikate Konflikte zu lösen.

Andererseits wenn die umstrittene Information der Verbesserung dient, z.B. das Funktionieren des Rechtssystems, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das anwaltliche Recht auf die Justizkritik geschützt. *39 In diesem französischem Fall ging es um einen versteckten Brief zwischen dem Richter und Staatsanwalt/Ermittler, der veröffentlicht wurde und dem der Rechtsanwalt in der Zeitung kommentiert hat, um daraus zu schliessen, dass das Verhalten der Untersuchungsrichterin “völlig unvereinbar mit den Prinzipien der Unparteilichkeit und Fairness” sei, und der Brief ein “empörendes” Maß der Nähe zwischen den französischen Richtern und Ermittlern offenbare. 

Die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sind besonders wichtige Merkmale, bei denen man ebenfalls ohne professionelle Ethik nicht weiter kommt. Die Gerichte und Vollzugsbehörden müssen schnell, effektiv, aber auch hochwertig arbeiten, um zu vermeiden, dass die Leute jahrelang darauf warten, dass die Gerichte in ihrem Land über ihr Schicksal entscheiden oder dass die für sie günstige Urteile auch vollgezogen werden.

Interamerikanischer Gerichtshof hat in einem Fall gegen Peru angedeutet, dass die Gerechtigkeit nicht wegen Formalitäten geopfert werden darf, solange ein passendes Gleichgewicht zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit bewahrt ist. *40 Es ist besonders wichtig, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte selbst auf hohe ethische Kriterien beruht und das Vorbild für die nationale Gerichte, mit denen er einen faszinierenden Dialog führt, darstellt.

Die obenerwähnten Beispiele haben uns gezeigt, dass die Menschenrechte und Achtung und Schutz der Menschenrechte den wichtigsten, wenn nicht den einzigen Rettungsring Europas bilden.

Meines Erachtens sollte man die Zukunft Europas durch das Prisma eines hohen Niveaus des Menschen­rechtsschutzes sehen und hier spielen der in der europäischen Politik inzwischen ins Hintergrund gerutschte Europarat, vor allem aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine entscheidende Rolle. Es sind die Werte der Menschenrechte, die uns in vielfältigen Europa verbinden, obwohl die gleichen Rechte manchmal in verschiedenen Staaten etwas anders ausgelegt werden können. Die Menschen­rechte sind längst nicht mehr ausschließende Domain der Innenpolitik, sie sind universal und auf jeden Fall europäisch.

Der geistige Vater der Einigung Europas, der internationale Beamte aus Frankreich, Jean Monnet hat gesagt, dass wir in Europa keine Staaten einigen, sondern Menschen verbinden. *41

Was verbindet aber die Menschen? Es sind ausgerechnet ihre Rechte und Pflichten, ihre Grundrechte und Freiheiten, die Menschenrechte, ihre eigenen Probleme, aber auch ihr eigenes Behagen, mit denen sie sich identifizieren.

Der deutsch-französische Politiker, ehemaliges langfristiges Mitglied des Europäischen Parlamentes, Daniel Cohn-Bendit meint, dass die Demokratie und Menschenrechte zwei integrierende Elemente Europas sind. *42 Auch der US-Präsident Barack Obama hat in seiner Rede im September 2014 in Tallinn die wichtige Rolle der Menschenrechte unter anderem auch Menschenwürde betont: „Not just in the Baltics, but throughout Europe, we must acknowledge the inherent dignity and human rights of every person – because our democracies cannot truly succeed until we root out bias and prejudice, both from our institutions and from our hearts.” *43

Am Besten fasst aber man die Menschenrechte und die Identität zusammen, in den man die Menschenrechte als das Wichtigste für die europäische Identität bezeichnet. *44

Wie können wir es aber schaffen, die Menschenrechte in den Vordergrund zu bringen?

Erstens: Als allererste sehe ich hier in diesem Kontext eine entscheidende Rolle der Familie, Schule und Ausbildung, Wissenschaft und Kultur. Nehmen wir pauschale Beispiele: Kunst, Rechtswissenschaft, auch Theater und was sie mit der Ethik verbindet, wie die Ethik sich durch die Kunst äußert, wie die Kunst als eine Therapie wirkt, z.B. ein Theater im Gefängnis, ein Gefangenentheater kann sehr viel den Reintegration in das Leben nach dem Gefängnis der einst Kriminellen beibringen.

Einer der berühmtesten estnischen Schriftsteller, ausgebildeter Jurist, Jaan Kross hat geschrieben, dass man nicht das Wissen lehren sollte, das vergisst man ja sowieso, sondern die Fähigkeit, wie das Wissen zu erlangen und die Prinzipien des Lernens, aber auch Charakter muss man lehren. *45

In diesem Zusammenhang ist es interessant zu bemerken, dass der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte in einer Entscheidung vom 2009 eine Beschwerde gegen die Einführung der Ethik als Pflichtfach an Berliner Schulen als unzulässig zurückgewiesen hat. *46 Die Klägerin, eine Schülerin und ihre Eltern, hatten der Änderung des Berliner Schulgesetzes und der Einführung eines Pflichtfachs Ethik für Schüler der 7. bis 10. Klassen widersprochen. Die Familie begründete ihren Widerspruch mit dem laizistischen Charakter des Unterrichts, der gegen ihre evangelische Überzeugung verstoße und mit dem staatlichen Neutralitätsgebot nicht vereinbar sei. Der EuGMR lehnte die Beschwerde als nicht ausreichend fundiert und daher unzulässig ab. In der Begründung hieß es: Das Ziel des Berliner Ethik-Unterrichts, die von der kulturellen, ethnischen, religiösen oder ideologischen Herkunft der Schüler unabhängige Betrachtung von grundsätzlichen ethischen Fragen, verstößt nicht gegen das Recht der Eltern, die Erziehung ihrer Kinder gemäß der eigenen religiösen Überzeugung auszuüben und gewahrt die staatliche Neutralität. Zum einen stehe es den Mitgliedstaaten frei, darüber zu entscheiden, ob „ein Rahmenplan einen größeren Platz den Kenntnissen über eine besondere Religion gewähren muss“. Zum anderen sei es kein Rechtsverstoß, wenn Schüler auch mit religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen konfrontiert werden, die den eigenen widersprechen.

Zweitens : Man muss einen neuen Impetus an die Menschenrechte geben. Einen einheitlichen Menschenrechtsraum für ganz Europa bilden. Dabei würde der Situation der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention viel helfen, da dann die Institutionen der Europäischen Union selbst auch unter einer Außen-Kontrolle des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte stehen würden. Das wäre sehr wichtig, denn vieles der staatlichen Handels direkt aus dem Recht der Europäischen Union stammt und solange der EU selbst der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht beigetreten ist, die Mitgliedstaaten die Verantwortung tragen. Leider hat der Gerichtshof für die Europäische Union in seinem Gutachten 2/2013 den Beitrittsvertrag als mit dem EU Recht unvereinbar gewertet. *47 Aber man kann diese Ablehnung auch als eine Herausforderung nehmen, eine grundbrechende Lösung zu finden, die die EU endlich aus dieser Krise hilft, denn die EU selbst braucht den Beitritt mehr als jemals.

Drittens: Was sehr wichtig ist und worüber man selten ehrlich spricht, ist zu vermeiden, dass die Menschen­rechte missbraucht werden. D.h. man sollte die Menschenrechte nicht als Flaggschiff der extremen Gruppen nehmen, die ihrerseits unter ihren Gegnern Extremismus kultivieren.

Der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland hat in seiner Rede im September 2014 vor dem Ministerrat des Europarates Folgendes betont: „I have always been committed to Europe – with its many nation states, diversity in culture, ethnicity and religion. Europe will never function with one ­centralized power. The continent’s diversity has to be taken into account. But we also know that Europe needs some common values and standards that hold the continent together. The Council of Europe is the epicentre for this value-based Europe. We can only be successful if we are able to strike the right balance between the need to have common standards and the respect for national, ethnic and religious identity. If the epicentre goes too far in imposing new standards, the surroundings will strike back. *48

Zusammenfassung

Es ist schade, dass die Bewunderung der europäischen Integration sich langsam zur Enttäuschung und Identitätskrise Europas umgewandelt hat. Vielleicht sollte man aufgeben, mit Kraft eine europäische Identität durchsetzen und stattdessen die wiedererwachende nationale Identität ernst nehmen, ehrlich über Probleme reden, keine Scheinunion kultivieren. Die Identität lieber mit den Menschenrechten verbinden, denn die Letzten sind das Wichtigste für eine Identität.

Europa sollte sich aus der Doppelzüngigkeit, Oberflächlichkeit und niedrige, statt hohe Gesamt­standards befreien und nach Menschenrechte als Rettungsring greifen und sich zu einem Wertegemeinschaft entwickeln.

Die Doppelzüngigkeit z.B. in der Politik, Wirtschaft und Medien, sollten nicht eine weitere europäische Scheinunion unterstützen. Was für den Menschen wichtig ist, ist nicht das System als solche, auch nicht die automatische Anerkennung und blindes Vertrauen, sondern dass man mit ihnen ehrlich ist und dass man ihre Probleme versteht, sie individuell betrachtet. Europa muss verständlich und menschlich sein. Die Ethik spielt hier eine bedeutsame Rolle, es kann beides: ein Grund einer Ausnahme der Anwendung eines Rechtes, aber auch ein Grundstein einer europäischen Norm sein.

Was ist wichtig, ist eine gute Ausbildung, eine „open mind“ zu haben, eine innerlich gewachsene Kultur und Ethik in der Familie, in der Schule, es muss nicht unbedingt „europäische Ethik“ als solches geben. Hauptsache ist, dass die Ethik ein Teil der Ausbildung ist, dass man über die Vergangenheit und Traditionen redet und gleichzeitig zukunftsorientiert ist. Jemand, der gute eigene Wurzel hat und die nicht vergisst, den ein gutes starkes Zuhause und eine Familie umgeben, aber gleichzeitig offen für Andere ist, egal wo in Europa, wird vor allem ein guter Mensch und dann früher oder später irgendwann automatisch ein guter Europäer. Es ist wichtig, Europa im globalen Bild zu sehen, auch Realismus und Selbstkritik gehören dazu, am besten Kritik durch eine Außenkontrolle, die von einer bereits existierenden Institution, sowie z.B. vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ausgeübt wird. Aber man muss darauf achten, dass man die Menschenrechte nicht missbraucht, sowie die ethische Gründe ein neues Recht zu schaffen oder ein Bestehendes einzuschränken nicht missbraucht. Sonst besteht die Gefahr, dass die Menschenrechte devalviert werden und keiner von ihnen etwas hören will.

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