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JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

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Media of Law and Legal Science

XVII/2010
ISBN 978-9985-870-27-3

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Multiple Modernität in den juristischen Zeitschriften – Rechtstheorie ist super!

I. Juristische Zeitschriften als systemische Bestandteile der Rechtskultur

Es erscheint mir sehr vielversprechend, im Rahmen dieser Tagung eine Auswahl juristischer Zeitschriften unter dem Aspekt zu untersuchen, welchen Zugang sie (i) zur Analyse staatlich organisierter Rechtssysteme als einzelner und (ii) im Vergleich zueinander eröffnen. Dies kann in nationaler, aber auch in internationaler Perspektive geschehen. Es geht mir darum, wie der jeweilige Beitrag dieser Zeitschriften zur Charakterisierung moderner Rechtssysteme und des zugehörigen modernen Rechtsdenkens einzuschätzen ist.

Die von den Veranstaltern getroffene Entscheidung, sich – was den zeitlichen Rahmen angeht – auf einige ausgewählte, führende Rechtszeitschriften in diversen nordeuropäischen Ländern seit dem 19. und vereinzelt auch seit dem 20. Jahrhundert zu konzentrieren, erscheint problemführend und richtig gewählt, auch wenn dabei nur ein Ausschnitt aus dem modernen Recht in den Fokus der Betrachtung gerückt wird.

Da es sich hier um juristische Zeitschriften aus Dänemark und Schweden, aus Finnland, Estland und Lettland, aber auch aus Deutschland und Russland handelt, haben wir es mit einem halbwegs kohärenten, in sich konsistenten Gegenstand zu tun. Natürlich durfte Russland hier nicht fehlen, vor allem was die Rechtszeitschriften im 19. Jahrhundert angeht. Schließlich geht es heute – in Rückanbindung an die Rechtsgeschichte und das seinerzeit geltende Recht – um eine Wiederanknüpfung an die Rechtslage und eine Rekonstruktion des russischen Rechtsdenkens vor der Oktoberrevolution. *1 Ohne eine wie auch immer beschaffene Kooperation mit Russland kann auch das vereinigte Europa (EG, EU) seine eigenständige Existenz nicht gewährleisten. Russland wäre zu groß, um es in die Europäische Union aufzunehmen. *2 Daher erscheint die Kooperation und Kommunikation im Rahmen einer Modernitätspartnerschaft mit dem heutigen Russland vonnöten.

Im Folgenden werden die juristischen Zeitschriften, welcher Art auch immer, als Kommunikationsmedien betrachtet. Sie vermitteln in der juridischen Kommunikation von Recht vermöge der Schriftsprache (Alltagssprache, Fach- und Berufssprache des Juristen) in gedruckter Form oder auf elektronischem Wege, auf dem sie von den Lesern der jeweiligen Zeitschrift ‚heruntergeladen‘ werden können, die normativen Rechtsinhalte, die in der Kommunikation von Recht benötigt werden. Juristische Zeitschriften sind somit kommunikative „Verbreitungsmedien“, hier verstanden im Sinne der Medientheorie Luhmanns. *3

Mein Zugang zum Rahmenthema ist die Rechtstheorie. Ich unterscheide im Folgenden zwischen (i) Rechtstheorie als einer – heute relativ eigenständigen – Disziplin der Rechtswissenschaft und (ii) der gleichnamigen Zeitschrift Rechtstheorie. Im Rahmen und als Teile dieser Zeitschrift sind auch zwei Sonderhefte erschienen, die sich mit der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie in Estland befassen. *4 Neben und mit der eigentlichen Zeitschrift zu berücksichtigen sind ferner bislang 21 Beihefte mit den Proceedings Internationaler Symposien, Weltkongresse u.a.m. Sie werden ergänzt durch die im selben Verlag erscheinende Reihe monographischer Schriften zur Rechtstheorie (mit gegenwärtig insgesamt 253 Werken), die gleichfalls den Themen und Problemen dieses Gegenstandsbereichs gewidmet sind, aber nicht unmittelbar zur Zeitschrift gehören.

Die inzwischen 40 Jahrgänge der Zeitschrift Rechtstheorie – sie erscheint seit 1970 – zeigen mehr als andere juristische Zeitschriften, dass in der modernen Gesellschaft und im modernen Recht tiefgreifende evolutionäre Veränderungsprozesse im Gange sind. Sie werden mit der rechtstheoretischen Kennzeichnung des Rechts bzw. des Rechtsdenkens als Modernisierung *5 , als Transition *6 oder als Transformation *7 der Rechtsordnung nur unzureichend beschrieben.

Ich gehe hier nicht der Frage nach, was sich daraus ergibt, dass die Bezeichnung Law Journal im Deutschen mit „juristische Zeitschrift“, aber auch mit „Rechtszeitschrift“ übersetzt werden kann und wird. Letzteres bedeutet eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs, die auch kennzeichnend für das moderne deutsche Recht ist und eine perspektivische Expansion der Rechtsbetrachtung beinhaltet. Sie geht weit über das hinaus, was die juristischen Professionen (Richter, Rechtsanwalt, Staatsanwalt pp.) am geltenden Recht und der Rechtsdogmatik interessiert und führt nahezu zwangsläufig zu einer Revision des Rechtsbegriffs. Ich zähle deshalb gewisse Jahrbücher, die eben diese Entwicklung dokumentieren und vorantreiben, zu den Rechtszeitschriften, wie beispielweise das Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie (seit 1970) oder das Russian Yearbook of Legal Theory [Rossijskij ežegodnik teorii prava], das seit 2008 in russische Sprache erscheint, oder Doxa in Spanien. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen die rechtsinhaltliche Beschäftigung mit der konventionellen Rechtsdogmatik (legal dogmatics) an den Rand rückt und den – im engeren Sinne professionellen – juristischen Zeitschriften überlassen bleibt, deren Erkenntnisinteressen aus leicht nachvollziehbaren Gründen gewöhnlich nicht auf die Gewinnung rechtstheoretischer Einsichten gerichtet sind. Jahrbücher sind eben dadurch in hervorragendem Maße geeignet, jenseits des Alltagsgeschäfts *8 des Juristen einen kommunikativ-verstehenden Zugang zur jeweiligen Rechtskultur *9 zu eröffnen, deren systemische Bestandteile sie sind. Ein Überblick über diese Rechtszeitschriften, der naturgemäß weit über die Grenzen einer nationalen und regionalen Rechtsbetrachtung hinausreichen müsste und die weltgesellschaftliche Entwicklung allen Rechts in Betracht zu ziehen hätte, ist hier nicht beabsichtigt und könnte auf dem knappen Raum auch gar nicht geleistet werden. Die detaillierte inhaltliche Kenntnis dieser Rechtszeitschriften kann durch meine Darstellung nicht ersetzt, sondern muss hier vorausgesetzt werden.

Wenn ich im folgenden für eine stärkere Berücksichtigung der Rechtstheorie in allen juristischen Zeitschriften plädiere, so nicht im Interesse von Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, sondern im Interesse einer theoretisch notleidenden dogmatischen Rechtswissenschaft, die – wie allenthalben deutlich wird – dabei ist, ihr wissenschaftliches Profil und Prestige zu verlieren, weil sie mit den zeitgenössischen Neuansätzen in der Methodologie und Theorie des Rechts nicht schrittgehalten hat. Wohlgemerkt: Es handelt sich hier nicht darum, eine Apologie für Rechtstheorie zu betreiben. Dies ist bei den raschen Erkenntnisfortschritten, die in den letzten Jahrzehnten auf den diversen Problemfeldern der modernen allgemeinen Theorie des Rechts und der Gesellschaft, wie beispielweise der Normen- und Handlungstheorie, der Strukturtheorie von Recht und Gesellschaft und der juridischen Informations- und Kommunikationstheorie, gemacht wurden und unser juristisches Weltbild revolutioniert haben, gar nicht erforderlich.

Vielmehr geht es darum, einige Desiderate in der modernen Rechtsforschung aufzuzeigen, bei deren näherer Identifikation und Behebung die juristischen Zeitschriften als Kommunikationsmedien beizutragen vermögen.

In der höchst prekären Entwicklung der Europäisierung und Globalisierung des Rechts hilft es nicht weiter, im Gewande des Analytikers ökonomische Vernunft o.ä. zu predigen und eine wirkliche oder vermeintliche Wertegemeinschaft (Prinzipien, apriorische Werte, ‚vernünftige‘ Grundsätze) zu beschwören, die es nur noch zu optimieren gelte und der sich alle vernünftig Denkenden notwendigerweise anschließen müssen oder doch sollten. Wa(h)re Werte? Auch der gängige, an Kosten-Nutzen-Erwägungen orientierte politisch-rechtliche Pragmatismus nordamerikanischer philosophischer Provenienz bietet keinen gangbaren Ausweg oder gar eine sozialadäquate rechtstheoretische Begründung, wenn es um eine kritisch reflektierte normative Autopoiese des Rechts geht bis hin zur wissenschaftlich begleiteten Rechtsgewinnung im Einzelfalle. Angebracht sind hier geduldige und intensive rechtstheoretische Forschungen, die sich auf die normativen Funktionen, Strukturen und Prozesse richten, durch die das moderne Recht in der Gesellschaft (Regionalgesellschaft, Weltgesellschaft) bestimmt wird. Insofern ist Rechtstheorie, wie ich finde, wirklich super, da sie als der Königsweg erscheint, auf dem alle rechtswissenschaftliche Erkenntnis voranzuschreiten vermag.

II. Rechtskulturelle Einbettung der Rechtsordnungen und deren Rekonstruktion und Reflexion im Rahmen rechtstheoretischer Fachzeitschriften

Wir leben heute in einer Informations- und Kommunikationsgesellschaft, die in allem Erleben und Handeln auf immens gesteigerten Wissenserwerb ausgerichtet ist. Sie prägt unser gesamtes alltägliches Erleben und Handeln. Dies geschieht in einem Ausmaß, dessen wir uns sehr häufig und sehr weitgehend gar nicht bewusst werden, ganz zu schweigen von den Konsequenzen und nicht beabsichtigten Nebenfolgen, die damit in kommunikativer Hinsicht verbunden sind. Dies gilt auch für die gewöhnlich staatlich *10 organisierten Rechtssysteme, die durch neuartige Formen normativer Kommunikation, insbesondere im Bereich des Rechts, gekennzeichnet sind. Sie stellen zugleich ganz neuartige Anforderungen an das rechtliche Erleben und Handeln derjenigen, die an der juridischen Kommunikation beteiligt sind.

Mir geht es darum, in der Rechtstheorie sämtliche Formen menschlichen Erlebens und Handelns in kommunikativer Perspektive zu deuten und zu rekonstruieren. Dies läuft im Ergebnis darauf hinaus, in der allgemeinen Theorie des Rechts, insbesondere in der Normen- und Handlungstheorie, die herkömmliche Willens- und Subjekttheorie durch eine umfassende Theorie normativer Kommunikation des Rechts zu substituieren. Dies kann hier natürlich nicht geleistet werden, doch habe ich mich hierzu wiederholt schon bei früherer Gelegenheit geäußert.

Ich betrachte juristische Zeitschriften (mit ihren mehr oder weniger organisierten Redaktionen, Wissenschaftlichen Beiräten pp.) als auf normative Information und Erkenntnis ausgerichtete soziale Kommunikations- und Handlungssysteme. Sie üben in der juridischen Kommunikation in Recht und Rechtswissenschaft einen bestimmenden und maßgebenden Einfluss aus. Ich werde mich im Folgenden ausschließlich mit der juridischen Kommunikation in modernen Rechtssystemen befassen.

Dies schließt natürlich nicht aus, dass auch in archaischen oder prämodernen Rechtssystemen unter den Bedingungen vorneuzeitlicher Hochkulturen in ihren diversen jeweiligen Lebensformen und Kommunikationsmedien Recht kommuniziert wird, ist aber hier nicht Gegenstand unserer Überlegungen. In modernen Rechtssystemen sind juristische Zeitschriften, wie ich es verstehe, vor allem und in erster Linie Medien der juridischen Kommunikation in Rechtspraxis und Rechtswissenschaft. Sie stellen in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft das erforderliche Wissen und die notwendigen Informationen bereit, auf die alle Rechtspraxis, hier verstanden im weitestmöglichen Sinne, d.h. unter Einschluss alltäglicher Rechtsgeschäfte, angewiesen ist.

Ich bin übrigens froh, dass ich nicht über die deutschen juristischen Zeitschriften im 19. und 20. Jahrhundert zu berichten habe. Ich wüsste nicht einmal, wie viele juristische Zeitschriften es gegenwärtig in Deutschland gibt. Bei uns wird jeder Zipfel der deutschen Rechtsordnung von einer Fachzeitschrift betreut, damit keine Information verloren geht. Im 19. Jahrhundert erblicke ich – vom Standpunkt des halb internen, halb externen Beobachters *11 moderner Rechtssysteme und der sozialen Wirklichkeit des jeweiligen Rechts – einen neuen Take off im Rechtsdenken bei Savigny *12 und vor allem bei Jhering *13 , der internationale Auswirkungen zeitigte.

Im Folgenden konzentriere ich meine Überlegungen auf das Problem der Modernität in den juristischen Zeitschriften. Letztere erweisen sich bei näherem Hinsehen als eine bislang nicht hinreichend genutzte Fundgrube, wenn es darum geht, die Modernität des Rechts näher zu bestimmen, auch wenn die Ergebnisse bisweilen zu wünschen übrig lassen.

Ob diese Formen der juridischen Kommunikation von Recht, die durch die moderne Rechtstheorie bestimmt und vorangetrieben werden, unter den Bedingungen einer sich in Umrissen abzeichnenden Weltgesellschaft (World Society, Global System) zu einem Weltrecht (World Law) zu konvergieren *14 vermögen, wie manche meinen, steht auf einem anderen Blatt. Ich komme darauf weiter unten zurück.

III. Multiple Modernität versus Globalisierung von Gesellschaft und Recht?

Juristische Zeitschriften sind, kommunikations- und systemtheoretisch gedeutet, die Beobachtungsstationen, von denen aus die Rechtsentwicklung eines Landes beobachtet, begleitet und beeinflusst werden kann. Auch geben sie darüber Auskunft, in welchem Ausmaße die heute erforderliche und ganz unvermeidbare Modernisierung des jeweiligen Rechtssystems vorankommt. Paul Varul hat in seinem Einleitungsreferat in exemplarischer Weise eindrucksvoll belegt, dass – aus der systemischen Perspektive Estlands gesehen – die estnischen Law Journals Juridica und Juridica International in nationaler, aber auch in internationaler und regionalgesellschaftlicher Hinsicht optimal aufgestellt sind.

Wie Varul meine auch ich, dass in den staatlich organisierten, arbeitsteilig differenzierten Rechtssystemen – in den juristischen Zeitschriften ganz deutlich erkennbar – eine nationale Einfärbung des Rechts und der Rechtstheorie identifiziert werden kann. Der Ausdruck national kann insoweit in der Tat als Referenzbegriff genutzt werden, um ab initio die Abhängigkeit aller internationalen von nationalen sozialen Systemreferenzen widerzuspiegeln. Auch die zugehörigen Rechtstheorien lassen nicht selten eine nationale Einfärbung erkennen, wie sie beispielweise in den diversen Varianten eines skandinavischen Rechtsrealismus in Erscheinung tritt. Dass bei der Einbettung nationaler wie regionaler Orientierungen in die gemeinschaftlichen Ordnungsstrukturen des Rechts deren nationale Systemreferenzen zu berücksichtigen sind, hat sogar die Europäische Union konzediert, wenn es in Art. 6 Abs. 3 ihres Vertrags heißt: „Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten“. Aber wer ist die Union? Verdient sie ihre zur Schau getragene Selbstachtung und Selbsteinschätzung, wenn ein zu weit getriebener Europäismus einzelnen Mitgliedstaaten in der Krise kaum tragbare Lasten aufbürdet?

Meine These ist, dass es sich heute bei den hier in Rede stehenden Rechtsordnungen, wie die zugehörigen juristischen Fachzeitschriften erkennen lassen, um eine – wenn auch in unterschiedlichem Maße voranschreitende – Modernisierung der Modernisierung des Rechts handelt. Sie tritt vor allem in Erscheinung

(1) als Europäisierung des Rechts, deren charakteristische Merkmale freilich noch umstritten sind;

(2) als Globalisierung des Rechts, die noch ihrer näheren Bestimmung harrt.

Beide Modernisierungsschübe schreiten rasch voran und sind noch nicht abgeschlossen.

Wir haben es, in Anlehnung an einen Ausdruck, den Anthony Giddens in seinen „Consequences of Modernity“ *15 verwendet, mit einer Form reflexiver Modernität zu tun, die sich auch auf das Recht und das Rechtsdenken erstreckt. Das heißt: indem die Modernisierung des Rechts in Prozessen der Europäisierung und Globalisierung reflexiv, d.h. auf sich selbst angewandt wird, kommt es zu einer Steigerung der juridischen Rationalität des Rechts. Recht und Rechtsordnung, verstanden als reflexive soziale Mechanismen, beispielweise als Normieren des Normierens, das im Wege der Selbstorganisation erfolgt, aber auch die Rechtstheorie, die ihre Reflexion auf sich selbst richtet, bevor sie ihren Gegenstand bearbeitet, sind selbstreflexiv geworden.

Wir haben es also – und darauf haben sich die juristischen Fachzeitschriften, aber auch die sonstigen Rechtszeitschriften trotz oder gerade wegen ihrer Spezialisierungen noch nicht hinreichend eingestellt! – mit einer tiefgreifenden Differenz zwischen nationalstaatlichen, regionalgesellschaftlichen und weltgesellschaftlichen Rechtskulturen zu tun, welche die moderne Kommunikationsgesellschaft prägen und determinieren, aber zugleich die notwendige rechtliche Integration mit den bisherigen eingelebten arbeitsteiligen Ordnungen und Lebensformen, in denen wir uns eingerichtet haben, verhindern. Ich kann und muss mich hier kurzfassen. Ich nehme insoweit Bezug auf die Studie von Dessau über „Nationale Aspekte einer transnationalen Disziplin“ *16 , womit die Rechtstheorie als Fach gemeint ist. In seiner Greifswalder juristischen Dissertation behandelt der Autor die rechtskulturelle Einbettung der Rechtstheorie in Finnland, Schweden und Deutschland. Er konzentriert sich dabei leider nur auf den Zeitraum zwischen 1960 und 1990. Er beschränkt sich außerdem auf die Forschungen von Aarnio, Peczenik und Alexy *17 , bietet also nur einen kleinen Ausschnitt, den er für exemplarisch wichtig hält, der aber naturgemäß nicht pars pro toto angesehen werden kann.

Ich halte es demgegenüber für angebracht, nicht von einer transnationalen Disziplin zu sprechen, sondern von einer allgemeinen Rechtstheorie, da Rechtstheorie in allen Rechtssystemen auch als nationale entwickelt und betrieben wird. Letztere muss ferner mit allen uns bekannten (und nicht bloß mit den westlichen) Rechtssystemen kompatibel sein (unter Einschluss der auch pro futuro wirklich möglichen Rechtssysteme!).

In einer Studie, die Harold Berman vom Standpunkt seiner geschichtlich-gesellschaftlichen Theorie des Rechts der Bestimmung der umstrittenen rechtlichen Qualität einer lex Mercatoria und eines darüber noch hinausreichenden transnationalen Rechts gewidmet hat, werden die mit diesen Worten und Begriffen umschriebenen und gekennzeichneten Gegenstandsbereiche und Strukturen des modernen Rechts ausgewiesen als Kernstück eines sich in unserer Informations- und Kommunikationsgesellschaft rasch ausbreitenden Weltrechts (World Law), das seinerseits für die zusammenwachsende Weltgesellschaft (World Society, Global System) charakteristisch ist. *18 Die Einsichten Bermans, die sowohl „innerhalb als auch außerhalb der westlichen Erfahrung“ zu suchen und zu finden sind, verdanken sich einer von ihm entwickelten Denkweise, die – entgegen der üblichen Periodisierung – die Genese und Geltungsgrundlagen der westlichen Tradition als ein Ganzes zu beschreiben sucht, nicht als Geschichte einzelner Nationen. Dies macht es nicht nur möglich, sondern vielmehr erforderlich, über die bloß geschichtliche Rechtsbetrachtung hinaus eine vergleichende Rechtstheorie zu entwickeln. Zu dieser Position, die in den modernen Rechtszeitschriften bislang nur am Rande berücksichtigt wurde, aber ein hohes kritisches Potential besitzt, das wir nicht ignorieren sollten, kann man nach Auffassung von Berman nur gelangen, wenn man (i) der Gleichsetzung nationalen Rechts mit dem Recht überhaupt zu begegnen sucht, (ii) die Irrtümer einer rein philosophischen und moralischen Rechtsauffassung (Naturrecht, Vernunftnaturrecht, philosophische Prinzipienlehren o.ä.) und einer bloß analytischen („vernünftigen“) Jurisprudenz zu vermeiden trachtet sowie (iii) diejenigen einer rein historischen und sozialökonomischen Rechtsauffassung („Historische Schule“) überwindet. Theorie des Rechts ist nun einmal eine auf geschichtlicher und gesellschaftlicher Erfahrung und Beobachtung beruhende normative Disziplin, die sich an der Positivität allen Rechts zu orientieren hat.

Im Folgenden fokussiere ich meine Überlegungen auf eine einzige Fragestellung. Sie hat im Beobachtungszeitraum für die juristischen Fachzeitschriften zunehmend an Bedeutung gewonnen und steht heute im Zentrum aller rechtlichen Überlegungen, an denen sich auch die juristischen Zeitschriften zu orientieren haben. Es geht – ausgesprochen oder unausgesprochen – um die Frage nach der Modernisierung des Rechts.

Die rechtssprachlichen Ausdrücke modern, Modernisierung und Modernität haben mit der weitgehenden Transformation dessen, was sie in Gesellschaft und Recht bezeichnen, ihre Bedeutung tiefgreifend verändert, ohne dass dies in weiten Kreisen der Rechtstheorie hinreichend zur Kenntnis genommen wird, von der Rechtsdogmatik ganz zu schweigen. Wir haben es gegenwärtig, wie vor allem Shmuel Eisenstadt in einer Reihe von Feldstudien zur Modernisierung im politischen System und im Recht in weltgesellschaftlicher Perspektive herausgearbeitet hat, im Zuge einer strukturellen Evolution der modernen Gesellschaft mit multiplen Modernitäten zu tun. *19 Mit Blick auf diejenigen, die in puncto Recht das Neue der Rechtsentwicklung tendenziell in der Globalisierung allen (!) Rechts erblicken, vertrete ich demgegenüber – in Anlehnung an die Untersuchungen von Preyer – vom Standpunkt der Rechtstheorie die These, dass das „Paradigma Multipler Modernitäten“, wie Preyer verallgemeinernd formuliert, als eine indirekte Antwort auf die Globalisierungsforschung und ihre Theoretisierung seit Ende der 1980er Jahre anzusehen ist. Dem kann und muss man wohl zustimmen. Wenn überhaupt Globalisierung von Recht, dann in der Form einer ‚Glokalisierung‘, die globale und lokale rechtliche Regelungen miteinander strukturell koppelt, wie ich bei früherer Gelegenheit ausgeführt habe. Dies schiebt die Modernitätsdebatte, wie ich hier leider nicht näher ausführen kann, auf ein anderes Gleis. Die Modernisierung der Modernisierung von Gesellschaft und Recht verbreitet sich zwar auf kommunikativem Wege global, führt aber – auch unter den Bedingungen der Positivität allen Rechts – nicht zu einer universalen Weltrechtsordnung, wie es dem Natur- und Vernunftrechtsdenken alteuropäischer Provenienz vorschwebte, sondern zu einer Vielzahl und Vielfalt von miteinander vernetzten modernen Rechtssystemen. Dies hat, ob man es will oder nicht, einen Dialog zwischen den diversen Rechtskulturen und kulturell unterschiedliche Interpretationen ihrer Modernität zur Folge.

Meine zentrale These einer multiplen Modernität der Rechtssysteme, die ich hier nur im Umriss entfalten kann, besagt, dass die Moderne in der Evolution von Gesellschaft und Recht kein allgemeingültiges, normativ fixes, institutionell auf Dauer gestelltes Muster der rechtlichen Modernisierung hervorgebracht hat, wie von manchen westlichen Rechtstheoretikern und Philosophen angenommen wird. Sie propagieren unverdrossen in Verfolgung eines verspäteten Idealismus, der seine Erneuerung zu betreiben sucht, ihre Ideen von universalen Menschenrechten u.a.m., weil sie sich mit deren Positivität nicht abfinden wollen und in sich selbst das Zeug zum moralischen Gesetzgeber verspüren. Einem derartigen Vorgehen kann nur mit der gebotenen Skepsis begegnet werden.

Das Informations- und Kommunikationssystem des Rechts insgesamt ist, so wie ich es sehe, ein normatives, institutionell auf Dauer gestelltes Netzwerk, das sich aus systemischen Kommunikationen und Operationen zusammensetzt. *20 Es baut sich auf und entwickelt sich fort aus einer kontingenten Anzahl von Rechtskommunikationen, die in der alltäglichen Rechtspraxis normativ miteinander verkettet, d.h. strukturell, prozedural und organisatorisch miteinander gekoppelt werden. *21 Dieses Netzwerk kann mit Mitteln des Rechts, normen- und handlungstheoretisch *22 gesehen, jederzeit nach Belieben erweitert werden, alle Sozialbereiche menschlichen Erlebens und Handelns erfassen, programmieren und konditionieren und auf diese Weise praktisch die ganze Welt umspannen, immer vorausgesetzt, dass die sozietalen und rechtssprachlichen Transformations- und Übersetzungsprobleme bewältigt werden.

Was aber geschieht, wenn die normative Kommunikation – über die territorialen und kulturellen Grenzen hinweg – nicht mehr als nationale, sondern als inter- und transnationale fungiert und verstanden wird? Hondrich hat diese Fragestellung, welche die „Weltgesellschaft“ angeht, letztere von ihm verstanden als „Gesellschaft der Gesellschaften“ *23 , sehr präzise auf den Punkt gebracht. „Wie sollen über sechs Milliarden Menschen, die diese Weltgesellschaft bevölkern, sich mitteilen und verständigen?“ Nicht von ungefähr hält Hondrich deshalb die Vorstellung, „dass man auf eine globale Universalstruktur zusteuere“, für „ebenso einfältig wie abwegig“. Da helfen auch keine juristischen Fachzeitschriften.

Normative Kommunikation, vor allem diejenige des Rechts, expandiert in nationaler wie in inter- und transnationaler Dimension über Netzwerke, die das Recht der modernen Gesellschaft nachhaltig bestimmen, prägen und alle weiteren Rechtskommunikation strukturieren. Dies verweist den Menschen, der in „Herkunftsbindungen“ steht, d.h. „in nicht selbstgewählten Primärbeziehungen, die gar nichts anderes sein können als Herkunftsbindungen an Familie, Sprach-, Wertgemeinschaft“ *24 u.a.m., und der seine Bestimmung und rechtlichen (!) Bindungen zu erkennen sucht, darauf, im Rahmen der ihn umgebenden rechtlichen Frameworks nationaler, internationaler und transnationaler Provenienz sein Leben, so weit wie möglich, in eigene Regie zu nehmen und immer erneut selbst zu bestimmen. Mit Blick auf die Verwissenschaftlichung der gesamten sozialen Lebenswelt bedarf er dabei einer rechtspraktischen und rechtstheoretischen Orientierung.

Die juridische Kommunikations- und Systemtheorie des Rechts, so wie ich sie verstehe, begreift die Theorie des Rechts nicht nur im Hinblick auf Interaktionssysteme und Organisationen, sondern zugleich in regional- bzw. weltgesellschaftlicher Perspektive. Dies geschieht mit Blick auf die Verflechtung der Normen mit ihrer emotional-praktischen Dimension der Handlungsorientierung in Form einer Theorie primärer und sekundärer sozialer Systeme, zu der ich mich wiederholt geäußert habe.

a) Die Bezeichnung der Theorie als juridisch kann sich, begriffsgeschichtlich gesehen, auf die in der Jurisprudenz seit jeher geläufigen Wort- und Begriffsverwendungen berufen, wie sie beispielweise in den Ausdrücken logica iuridica (lat.), logique juridique (frz.) und lógica jurídica (span.) in Erscheinung treten, die – im Gegensatz zur abstrakten Vernunft und formalen Logikphilosophischer Provenienz! – in methodischer und theoretischer Hinsicht die juridische Rationalität kennzeichnen. *25 Auch die russische Rechtssprache kennt übrigens seit jeher den bedeutungsgleichen Ausdruck juridičeskaja logika (юридическая логика).

b) Bei aller fortschreitenden Vergesellschaftung und Rationalisierung wird das alltägliche Leben auch in der Moderne, insbesondere im modernen Recht, nach wie vor nachhaltig geprägt durch sozietale Gemeinschaftsbildungen, die sich nicht bloß strukturell gleichbleibend reproduzieren und erneuern, sondern immer weiter ausdifferenzieren. Sie erstrecken sich von Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft und Gemeinden, ganz zu schweigen von einer Vielzahl und internationalen Vielfalt sonstiger sozialer Verbandsbildungen bis hin zu nationalstaatlichen, föderalen und internationalen vertraglichen Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Sie reichen aber auch, wie manche neuartigen Rechtsgemeinschaften im Bereich des Wirtschaftsrechts, weit hinein in internationale und transnationale Lebensbereiche, die im weltgesellschaftlichen Zusammenhang in nur schwer durchschaubarer Weise miteinander verbunden sind. Wir haben es somit im modernen Recht, insbesondere in dem von der Positivität geprägten kontinentaleuropäischen Recht in der gesamten Rechtsentwicklung, wie übrigens schon Max Weber *26 erkannt hat, mit zwei nebeneinander herlaufenden, sich wechselseitig beeinflussenden Tendenzen zu tun, nämlich mit einer fortschreitenden rationalen Vergesellschaftung, die ihrerseits strukturell gekoppelt erscheint mit differenzierten Formen der Vergemeinschaftung der rechtlichen Lebenswelt.

c)In ihren Untersuchungen dieser neuartigen Problemkonstellation, die mit dem Wort und Begriff Globalisierung mehr etikettiert als charakterisiert wird, hat Miriam Meckel sehr treffend darauf hingewiesen, dass es im Weltkontext heute “unmöglich (ist), wirtschaftliche Notwendigkeiten, politische Entscheidungen oder soziale Prozesse auf eine affektuelle oder traditionale Grundlage zu stellen, weil es eben diese nicht gibt”. Recht fungiert, bezogen auf das menschliche Verhalten (Handeln und Unterlassen), nach einer verbreiteten Auffassung, die auch ich teile, nicht bloß als normative Struktur, sondern auch als kommunikatives Medium. Daher läuft die These von Meckel darauf hinaus, dass der Globalisierungsprozess, wie auch immer beschaffen, eine “strukturell vernetzte Weltgesellschaft” induziert, aber keine “rational integrierte Weltgemeinschaft” erzeugt. *27

Die mediale Vergesellschaftung vollzieht sich hauptsächlich in und durch Kommunikation. Sie kann aber jeweils nur “sachlich und zeitlich begrenzte Handlungspotentiale aktivieren”, wie beispielweise für den Bereich des Informations-, Telekommunikations- und Medienrechts. Es g eht im modernen Recht somit nicht um die Vorstufe eines integrativen Entwicklungsprozesses mit dem optionalen Endstadium der ‚Weltgemeinschaft‘ als der integrierten Gesamtheit aller Denkprozesse, Kommunikationen und Handlungen im globalen Kontext. Vielmehr handelt es sich dabei, wie Meckel sehr treffend auch mit Blick auf die analytisch-begriffliche Konzeption der Systemtheorie bemerkt, um „nichts anderes und vor allem nicht mehr als das ‚theoretische Konstrukt der Möglichkeit von Weltgesellschaft‘“. *28 Dem steht natürlich die Annahme nicht entgegen, dass die gemeinschaftlich strukturierten sozialen Kommunikations- und Handlungssysteme realiter existieren und damit zum Gegenstand immer wieder erneuter (Re-)Konstruktionsbemühungen avancieren.

Kommunikation hat es auch nicht, wie bisweilen angenommen wird, zu tun mit einer privilegierten Verbreitung westlicher Werte, die vielleicht auch noch hegemonial gehandhabt werden müssten. Die Modernisierung der Gesellschaft darf nicht mit Verwestlichung gleichgesetzt werden und führt auch nicht notwendig zu westlichen Strukturen, vor allem und schon gar nicht im Bereich des Rechts. Infolgedessen wird hier deshalb in rechts- und gesellschaftstheoretischer Perspektive zwar zwischen (i) westlichen Gesellschaften und (ii) nichtwestlichen Gesellschaften unterschieden, aber kein Hegemonialverhältnis unterstellt. Es ist – entgegen einer verbreiteten Meinung – auch nicht so, dass diese Gesellschaften konvergieren. Dies geht etwas über unser heutiges Tagungsthema hinaus, ist aber Gegenstand von Rechtszeitschriften und bedürfte vermehrter Beachtung.

Unter den führenden Rechtstheoretikern und Rechtsphilosophen der westlichen Welt, die in ihrer allgemeinen Theorie des Rechts zunehmend die nationalen Grenzen ihrer Rechtssysteme überschreiten, hat sich schon im Verlaufe der letzten Jahrzehnte, aber seit Beginn des 21. Jahrhunderts noch verstärkt die – mehr intuitive als wissenschaftlich bewiesene – Einsicht verbreitet, dass die westliche moderne Gesellschaft mit ihren äußerst vielschichtigen Rechtstraditionen und ihrer tradierten, aber bloß konventionellen Konzeption von Rechtswissenschaft in eine bislang „noch nie dagewesene Krise der Werte und des Denkens auf dem Gebiete des Rechts“ geraten ist. *29 Sie bedarf deshalb selbst einer grundlegenden Erneuerung. Was diese Aufgabenstellung angeht, ist kein Rekurs auf ein substanzhaftes Wesen oder gar auf das wahre Wesen des Rechts gefordert, wie auf Seiten eines verfehlten Essentialismus und Platonismus im Rechtsdenken angenommen wird. Das Wesen des Rechts ist – informations- und kommunikationstheoretisch gesehen, aber auch philosophisch gedeutet –, dass es keines hat.

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