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JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

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Media of Law and Legal Science

XVII/2010
ISBN 978-9985-870-27-3

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Eingreifen oder nicht eingreifen, das ist hier die Frage. Die Problematik der Bestimmung und des Anwendungsbereichs der Eingriffsnormen im internationalen Privatrecht

1. Einleitung

Die alltäglich gewordene grenzüberschreitende Kommunikation und die zunehmende Internationalisierung sowohl des gesellschaftlichen als auch familiären Bereichs bedeuten, dass die Richter zunehmend Fälle zu lösen haben, die nicht nur mit einem Staat verbunden sind, und Rechte anzuwenden haben, die sie nicht ausreichend kennen. In solchen Fällen können die Eingriffsnormen als „Rettungsringe“ dienen, die es dem Richter dennoch ermöglichen, von der Anwendung des ausländischen Rechts abzuweichen und damit inländische Grundwerte und -Prinzipien zu gewähren.

Hinsichtlich dieses Bedürfnisses, mitunter eine solche Abweichung zuzulassen, wurde sowohl in inländischen Gesetzen zum internationalen Privatrecht als auch in entsprechenden neuesten Staatsverträgen und EU-Verordnungen die Möglichkeit vorgesehen, die Anwendung des ausländischen Rechts aufgrund innerstaatlicher Interessen zu verweigern. Bei den Eingriffsnormen handelt es sich um eine der zahlreichen Änderungen, die mit dem Inkrafttreten der Rom I-Verordnung *1 stattgefunden hat und für die Rechtspraxis von Bedeutung ist. Die Anwendung dieser Ausnahme fällt jedoch schwer, da es sich dabei um einen Begriff handelt, der nicht nur inhaltlich kompliziert zu definieren ist, sondern dessen Eingreifen auch von vielen Aspekten und ihren Mitwirkungen abhängig ist.

In diesem Aufsatz soll die Problematik und Bedeutung von Eingriffsnormen aufgezeigt werden. Das Ziel des folgenden Beitrags ist es zu untersuchen, was im Allgemeinen als Eingriffsnormenbezeichnet wird und vornehmlich – unter welchen Voraussetzungen sie in der Praxis eingreifen können. In dem Aufsatz wird auf die neuesten entsprechenden Entwicklungen in der EU eingegangen und untersucht, ob und welche Fortschritte diese gegenüber dem EVÜ bringen. Als gesetzliche Grundlagen der Untersuchung werden die entsprechenden Gesetze Estlands und die EU-Verordnungen benutzt; außerdem wird rechtsvergleichend auch das deutsche Recht einbezogen.

2. Begriff und Bestimmung der Eingriffsnormen

2.1. Begriff der Eingriffsnormen

Bei den Eingriffsnormen handelt es sich um Normen, die ohne Rücksicht auf das Vertragsstatut bzw. Deliktsstatut den Sachverhalt zwingend regeln. Diese sind in § 31 des estnischen IPR-Gesetzes *2 (und im Art. 34 EGBGB *3 ) geregelt – Art. 34 nennt zwar den Begriff von Eingriffsnormen nicht ausdrücklich und spricht nur von zwingenden Vorschriften, im EIPRG dagegen wird schon seit dem Inkrafttreten des EIPRGs am 1. Juli 2002 ausdrücklich von Eingriffsnormen gesprochen.

Die Festlegung des Begriffes der Eingriffsnormen kann vielschichtige Probleme aufwerfen. Es ist dabei von besonderer Wichtigkeit, zwischen den Eingriffsnormen und zwingenden inländischen Bestimmungen (§ 32 Abs. 3 EIPRG, Art. 27 Abs. 3 EGBGB) zu unterscheiden. Der Grund dafür ist, dass zwingende inländische Bestimmungen nur dann eingreifen können, wenn der Sachverhalt mit einem und demselben Staat verbunden ist. Ebenso müssen Eingriffsnormen von zwingenden Bestimmungen zum Schutz des Verbrauchers im Sinne des § 34 EIPRG abgegrenzt werden, die nur in den Fällen anzuwenden sind, in denen der innerstaatliche Verbraucherschutzstandard durch Anwendung von ausländischem Recht gefährdet wird.

In verschiedenen Sprachen wurden bis heute mehrere verschiedene Begriffe anstelle vom Begriff Eingriffsnormen ( üldist kehtivust omavad sätted ) benutzt. *4 Solch eine Verwendung paralleler Begriffe ist an sich nicht problematisch, obwohl die Benutzung eines konkreten Begriffs im Interesse der Rechtssicherheit vorzuziehen wäre. Besonders wichtig ist, dass die Verwendung paralleler Begriffe keine Schwierigkeiten bei der Festlegung der Eingriffsnormen verursacht. Zum Beispiel werden in der estnischen rechtswissenschaftlichen Literatur neben dem Begriff der Eingriffsnormen auch solche Termini wie imperative Bestimmungen ( imperatiivsed normid ) *5 , international zwingende Normen ( rahvusvaheliselt imperatiivsed sätted ) *6 oder zwingende Vorschriften ( kohustuslikud sätted ) *7 verwendet. Gerade die Benutzung des Begriffs der imperativen Bestimmungen oder zwingenden Vorschriften ermöglicht es aber nicht, die Natur der Eingriffsnormen eindeutig zu verstehen, und Schwierigkeiten können sowohl bei der Unterscheidung zwischen Eingriffsnormen und zwingenden inländischen Bestimmungen als auch bei der Entscheidung über deren Anwendung entstehen.

In der Fachliteratur wurde vielfach kritisiert, dass der Begriff von Eingriffsnormen in Art. 7 EVÜ inhaltlich undefiniert gelassen wurde. *8 Eigentlich definieren weder § 31 EIPRG, Art. 16 Rom II-Verordnung *9 noch Art. 34 EGBGB nicht, was unter dem Begriff der Normen, die ohne Rücksicht auf das Vertragsstatut bzw. Deliktsstatut den Sachverhalt zwingend regeln, zu verstehen ist. Deswegen ist zu begrüßen, dass bei der Umwandlung des EVÜ in die Rom I-Verordnung auch die Eingriffsnormen revidiert wurden. Bei der Umwandlung wurde nicht nur die Überschrift der Vorschrift verbessert – diese Norm ist jetzt als Eingriffsnormen tituliert – sondern der Verordnung wurde auch die Legaldefinition der Eingriffsnormen hinzugefügt, was die Natur von Eingriffsnormen besser zu verstehen ermöglichen soll. Gemäß der in Art. 9 der Rom I-Verordnung beinhalteten Definition ist eine Eingriffsnorm eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe der Rom I-Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Diese Begrifflichkeit folgt eng der Arblade-Entscheidung des EuGH *10 und stimmt in begrüßenswerter Weise mit dem bisherigen Verständnis der international zwingenden Bestimmungen weitgehend überein. *11 Die Benutzung des Terminus Eingriffsnorm hilft hoffentlich von jetzt an die Verwendung paralleler Begriffe zu vermeiden. Erfreulicherweise ist durch die Verwendung der Legaldefinition auch die unter dem EVÜ bestehende Begriffswirrung zwischen einfach und international zwingenden Bestimmungen beendet. *12

2.2. Bestimmung der Eingriffsnormen

Obwohl die neue Rom I-Verordnung eine Legaldefinition der Eingriffsnormen beinhaltet, ist damit keinesfalls eine umfassende Regelung vorgesehen. Im Gegensatz – allein die Definition selbst genügt meistens nicht um zu entscheiden, ob eine Vorschrift auch eine Eingriffsnorm ist. *13 Demzufolge ist für die Feststellung des international zwingenden Charakters einer Norm festzulegen, ob die fragliche Norm einen sog. Anwendungswille oder Geltungswille hat. Der Anwendungswille, der auch bisher zu fordern war, bedeutet einen besonderen Geltungsanspruch der Norm, ohne Rücksicht auf fremdes Recht in jedem Fall durchgesetzt zu werden. Im Idealfall sollte der Anwendungswille der Norm schon aus ihrer Formulierung ableitbar sein. Um weitere Fraglichkeiten zu vermeiden, sollte der Gesetzgeber mithin schon beim Formulieren von Rechtsakten gegebenenfalls expressis verbis vorschreiben, dass ein Vorschrift ohne Rücksicht auf das für das Rechtsverhältnis maßgebende Recht anzuwenden ist. Zum Teil hat z. B. der deutsche Gesetzgeber dies auch getan, indem er – insbesondere in jüngeren Vorschriften – die internationale Normgeltung ausdrücklich angeordnet hat. *14 Da solche expressis verbis vorgeschriebene internationale Normgeltung jedoch vergleichsweise selten in Gesetztexten vorkommt, ist es unmöglich bloß nach der Formulierung der Vorschrift zu entscheiden, ob der Anwendungswille der Vorschrift vorhanden ist. *15

Wenn der Wortlaut der Norm den Anwendungswillen nicht ausdrücklich erwähnt, muss ihr staatspolitischer Zweck ermittelt werden, um den international zwingenden Charakter der Norm festzulegen. Es bedeutet, dass Normen, die als Eingriffsnormen anzusehen sind, hauptsächlich staats- und wirtschaftspolitischen Interessen dienen (sollen), oder aus sozial- oder gesellschaftspolitischen Gründen erlassen worden sein sollen. *16 Dieser schon zu Art. 34 EGBGB und Art. 7 EVÜ entwickelte Meinungsstand wurde auch in die Rom I-Verordnung eingenommen – gemäß Art. 9 Abs. 1 wird die Wahrung des öffentlichen Interesses eines Staates, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation expressis verbis als Zweck der Eingriffsnormen genannt. Für die Klassifizierung als Eingriffsnorm ist es also notwendig, dass die Norm überwiegend oder zumindest stark im öffentlichen Interesse liegt – Vorschriften, die in erster Linie Privatinteressen ausgleichen, fallen somit aus dem Kreis der Eingriffsnormen heraus. *17 Es ist jedoch nicht per se ausgeschlossen, dass Eingriffsnormen auch zum Schutz der sozial schwächeren Partei eingreifen können. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass sie daneben zumindest auch Gemeinwohlziele verfolgen. *18

3. Voraussetzungen der Anwendung der Eingriffsnormen

Obwohl Art. 16 Rom II-Verordnung aufgrund des Widerstands einzelner Mitgliedstaaten *19 nur von einer einzigen Art von Eingriffsnormen – internen Eingriffsnormen oder Eingriffsnormen der lex fori – spricht, ist gemäß Art. 9 der Rom I-Verordnung zwischen zwei Arten von Eingriffsnormen zu unterscheiden. Nämlich werden neben den Eingriffsnormen der lex fori auch sog. externe oder fremde Eingriffsnormen erwähnt. Eine wesentliche Änderung im Vergleich zu der bisherigen Rechtssituation, wo viele Vertragsstaaten von einem möglichen Vorbehalt gegenüber der Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen Gebrauch gemacht haben, ergibt sich daraus, dass nach dem Inkrafttreten der Rom I-Verordnung am 17. Dezember 2009 sind alle Mitgliedsstaaten unter gewissen Umständen verpflichtet, auch ausländische Eingriffsnormen zu beachten. *20

3.1. Eingriffsnormen der lex fori

Wie schon gemäß EIPRG und EVÜ der Fall war, ordnen auch Rom I- und Rom II-Verordnungen an, dass andere Vorschriften nicht die Anwendung der Eingriffsnormen der lex fori berühren. *21 Aufgrund der Formulierungen der genannten Rechtsakte kann es auf erstem Blick scheinen, dass, sofern nichts deren Anwendung berührt, es für die Anwendung der Eingriffsnormen der lex fori ausreicht, wenn lediglich deren internationale Geltungfestgestellt wird. Allerdings ist es umstritten, ob es zusätzlich zum Anwendungswillen noch des, im Wortlaut nicht erscheinenden, Elements der engen Verbindung bzw. eines objektiven Inlandsbezugs bedarf. *22 Eine solche zusätzliche Anforderung findet zwar im Wortlaut der Regulierungen der Rom I- und Rom II-Verordnungen eine Stütze, folgt aber wohl aus dem Sinn und Zweck dieser Vorschriften. Das ergibt sich daraus, dass die Durchsetzung eigener, die politische, Wirtschafts- oder Sozialordnung schützenden Normen tatsächlich nur dann Sinn ergibt, wenn diese von der Anwendung zumindest räumlich betroffen ist. *23

Es kann dennoch fraglich sein, welche Intensität der Inlandsbeziehung für die Anwendung der Eingriffsnormen verlangt ist oder wie die Inlandsbeziehung festzulegen ist. Einerseits mag der Grad der Inlandsbeziehung schon gesetzlich angeordnet sein. Beispielsweise müssen in Deutschland die Preisvorschriften der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure nach ihrer Zielsetzung zwingend zur Anwendung gelangen, wenn die in einem grenzüberschreitenden Architektenvertrag vereinbarten Leistungen für ein im Inland gelegenes Bauwerk erbracht werden. *24 Auch z. B. die in § 36 Abs. 3 ESchRG *25 beinhaltete Regulation der allgemeinen Geschäftsbedingungen sieht vor, dass der Vertrag mit allgemeinen Geschäftsbedingungen oder mit deren Erfüllungsort verbundene Tatorte in Estland liegen würden. Beim Fehlen einer solchen Inlandsbeziehung kann die Regulation der allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht als Eingriffsnorm angewendet werden. Andererseits, wenn die Intensität der Inlandsbeziehung als Anwendungsvoraussetzung gesetzlich nicht angeordnet ist, ist es in jedem Einzelfall durch Auslegung zu ermitteln, welche Umstände die erforderliche Beziehung zur inländischen Rechtsordnung herstellen. Dabei ist es erheblich zu beachten, dass es auf die zu untersuchende Vorschrift und nicht etwa auf den Vertrag, auf den die Vorschrift angewendet wird, ankommt. *26

In letzter Zeit werden in der Fachliteratur beide Elemente – der Anwendungswille der Norm als subjektives Kriterium und Inlandsbeziehung als räumliches Kriterium, zu einander in Wechselbeziehung gesetzt. *27 Diese Methode bedeutet, dass beide Kriterien negativ voneinander abhängig gemacht werden sollten und der jeweilige Normzweck der Vorschrift zur Intensität der jeweiligen Inlandsberührung in Verbindung zu setzen ist – je wichtiger der Normzweck für grundlegende ordnungs- und sozialpolitische Interesse ist, umso geringer darf die Inlandsbeziehung des jeweiligen Sachverhaltes sein. Umgekehrt kann ein starker Inlandsbezug auch bei einem weniger ausgeprägten öffentlichen Interesse ausreichen. Mit einer solchen Auslegung stimmen auch die in den Erwägungsgründen der Rom I- und Rom II-Verordnung genannten Begründungen überein, gemäß der die Gründe des öffentlichen Interesses die Anwendung der Eingriffsnormen nur unter außergewöhnlichen Umständen rechtfertigen. *28

3.2. Beachtung fremder Eingriffsnormen

3.2.1. Gesetzliche Grundlage für die Beachtung fremder Eingriffsnormen

Neben internen Eingriffsnormen beinhaltete das EVÜ auch eine Obliegenheit, unter bestimmten Voraussetzungen fremde Eingriffsnormen zu beachten. *29 Daher waren nicht alle Gerichte der Mitgliedstaaten des EVÜ dazu verpflichtet, diese zweite Art von Eingriffsnormen – fremde oder externe Eingriffsnormen –, zu berücksichtigen. Das ergab sich daraus, dass wegen der gegenseitigen Meinungen der Mitgliedstaaten des EVÜ und vielfältiger Kritik über Art. 7 Abs. 1 es gemäß Art. 22 Abs. 1 lit. a EVÜ möglich war, einen Vorbehalt gegen die Beachtung der ausländischen Eingriffsnormen einzulegen. *30 Aufgrund dieser „Angstklausel“ des Art. 22 entfaltete also Art. 7 Abs. 1 EVÜ in Bezug auf drittstaatliche Eingriffsnormen keine gemeinschaftsweite Wirkung. *31

Dennoch hatten sich selbst diejenigen Mitgliedstaaten des EVÜ, die den Vorbehalt gegen die Anwendung des Art. 7 Abs. 1 EVÜ eingelegt hatten, einer Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen bekanntlich nicht gänzlich verschlossen. So hat z. B. der Bundesgerichtshof Deutschlands zwar nicht Art. 7 Abs. 1 EVÜ angewandt, doch hat er statt dessen im Rahmen der lex causae auf materiell-rechtliche Rechtsinstitute ausgewichen, indem er bei Verstößen gegen ausländische Eingriffsnormen, deren Wertungen vom deutschen Recht geteilt werden, § 138 BGB angewendet hat. Ähnlich hat die englische Rechtssprechung fallweise eine materiell-rechtliche Berücksichtigung solcher ausländischer Eingriffsnormen in Betracht gezogen, deren Wertung vom englischen Recht geteilt wurde. *32

Um die Rechtseinheit im Binnenmarkt zukünftig stärker sicherzustellen, wurde die Möglichkeit, einen Vorbehalt gegen die Beachtung der ausländischen Eingriffsnormen einzulegen, bei der Umwandlung des EVÜ in die Rom I-Verordnung ausgeschlossen, was aber keine endgültige Zustimmung der Mitgliedstaaten gefunden hat. *33 Als Kompromiss zwischen der Einbeziehung und Ausschaltung der ausländischen Eingriffsnormen wurde beschlossen, den Anwendungsbereich der Vorschrift einzuschränken. Somit wird in der Rom I-Verordnung jedoch zwischen den internen und externen Eingriffsnormen prinzipiell differenziert, von den externen Eingriffsnormen sind aber nur die Eingriffsnormen dieses Staates zu berücksichtigen, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind.

Folglich ist also auch künftig zwischen zwei Arten von Eingriffsnormen zu unterscheiden, aber während sowohl das EVÜ als auch der Kommissionsvorschlag Eingriffsnormen der lex fori und Eingriffsnormen anderer Staaten als zwei Arten von Eingriffsnormen erwähnt haben, so spricht die endgültige Fassung der Verordnung neben der Eingriffsnormen der lex fori von Eingriffsnormen des Erfüllungsortsstaates. Bei dieser Änderung handelt sich um eine Begrenzung, die vom europäischem Parlament in der ersten Lesung des Entwurfs praktisch im letztem Moment eingeführt wurde – zunächst wurde gar eine vollständige Streichung der externen Eingriffsnormen erwogen, um Übereinstimmung mit der Rom II-Verordnung zu erzielen. *34 Das Parlament war mit der Zufügung der Vorschrift in den Text der Verordnung nur unter der Bedingung einverstanden, dass deren Anwendungsbereich mit Eingriffsnormen des Erfüllungsortsstaates abgegrenzt ist.

In der Fachliteratur wird behauptet, die neue Formulierung der Vorschrift entspreche im Wesentlichen englischen kollisionsrechtlichen Vorstellungen. Daraus folge jedoch nicht, dass die Verordnung auch genau so auszulegen und anzuwenden wäre, wie dies dem englischen Verständnis der Behandlung ausländischer Eingriffsnormen entspricht – die Verordnung als ein Gemeinschaftsrechtsakt sei vielmehr den Gesetzmäßigkeiten und Auslegungsprinzipien des europäischen Rechts verpflichtet. *35

Die Anwendungsvoraussetzungen der Eingriffsnormen des Erfüllungsortsstaates unterscheiden sich deutlich von der bisherigen Regulation der Eingriffsnormen anderer Staaten (EVÜ Art. 7 Abs. 1). Dennoch handelt es sich bei beiden Vorschriften um eine Norm, deren Anwendungsvoraussetzungen noch spezifischer und außergewöhnlicher sind, als es bei der Anwendung der Eingriffsnormen der lex fori der Fall ist. *36 Sowohl bei der bisherigen als auch bei der derzeitigen Regulation muss aber darauf Rücksicht genommen werden, dass der andere Staat i.S.d. Norm ebenso ein Mitgliedstaat wie ein Drittstaat sein kann. Obwohl während der Diskussionen über den Inhalt der Rom I-Verordnung am Anfang auch über die Möglichkeit verhandelt wurde, nur Eingriffsnormen der Mitgliedstaaten anstatt drittstaatlicher Eingriffsnormen zu berücksichtigen, wurde dieser Vorschlag abgelehnt.

Wie oben erwähnt, hat die Rom II-Verordnung in Art. 16 auf eine entsprechende Regelung verzichtet, daraus ist aber keineswegs auf ein Verbot der Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen – ob drittstaatlicher oder zumal solcher aus anderen Mitgliedstaaten – zu folgern. Die Autorin dieses Aufsatzes stützt den, auch in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur erwähnten Standpunkt, dass das mit der Rom II-Verordnung verfolgte Ziel des internationalen Entscheidungseinklangs gerade eine maßvolle Anwendung ausländischer Eingriffsnormen gebiete, da ansonsten ein Anreiz zum forum shopping geschaffen würde.*37 Folglich sollte auch die Rom II-Verordnung es prinzipiell ermöglichen, ausländische Eingriffsnormen zu berücksichtigen, deren Voraussetzungen bleiben zurzeit aber unklar und es ist äußerst fraglich, ob und wann deren Anwendung in Praxis in Frage kommen könnte. In der deutschen Literatur wird erwähnt, dass sich z. B. für den Bereich der Arbeitskampfmaßnahmen eine Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen aus Erwägungsgrund 28 ableiten lassen. *38  

3.2.2. Hinreichende Inlandsbeziehung

Art. 7 Abs. 1 EVÜ hat vorgeschrieben, dass die Eingriffsnormen eines anderen Staates Wirkung verliehen können, wenn der Sachverhalt mit diesem Staat eine enge Verbindung aufweist. In die Formulierung der neuen Regulation dagegen wird eine hinreichende Beziehung des Eingriffsstaates nicht expressis verbis angeordnet, sondern es wird nur die Möglichkeit erwähnt, dass Eingriffsnormen des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, Wirkung verliehen können. *39

Als der Staat, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, von selbst und ganz unvermeidlich mit dem Sachverhalt eine hinreichende Beziehung aufweist, ist dennoch das bis jetzt gegoltene Prinzip in diesem Sinne in Kraft geblieben. Im Vergleich zum EVÜ wird in der Rom I-Verordnung der Anwendungsbereich der Norm aber durch eine Präzision der erforderlichen Inlandsbeziehung bemerkenswert begrenzt. Nach der neuen Verordnung kann somit nur eine Art von hinreichender Beziehung die Anwendung ausländischer Eingriffsnormen rechtfertigen, nämlich der Erfüllungsort, der sich im Ausland befindet. Folglich ermöglicht die neue Verordnung nicht mehr die Berücksichtigung der Eingriffsnormen aller Staaten, die mit dem Sachverhalt eine enge Verbindung aufweisen. Demzufolge, wenn für die Anwendung der ausländischen Eingriffsnormen nach Art. 7 Abs. 1 EVÜ nur eine hinreichend enge Verbindung mit diesem Staat festgestellt werden musste, dann sieht die neue Rom I-Verordnung eine Berücksichtigung der Eingriffsnormen allein dieses Staates vor, in dem die Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, obwohl zudem eine enge Verbindung mit dem Recht eines anderen Staates bestehen mag.

Eine weitere Frage ist, ob es sich beim Erfüllungsort im Sinne des Art. 9 Abs. 3 Rom I-Verordnung um einen rechtlichen oder faktischen Erfüllungsort handelt. Dieser Aufsatz stütz die Maßgeblichkeit des tatsächlichen Erfüllungsortes. Es könnte aber auch gegen dieses Standpunktes argumentiert werden, z. B. mit Begründungen, dass Art. 9 Abs. 3 nach dem Vorbild des englischen Rechts gefasst wurde, in dem überwiegend allein Eingriffsnormen des Erfüllungsortes im Rechtssinne für berücksichtigungsfähig gehalten werden, oder dass es sich bei dem Terminus „Erfüllungsort“ um einen Rechtsbegriff handelt. Dennoch wird auch im deutschen Rechtschrifttum ausgehalten, dass es nach der genannten Vorschrift bei bereits erfolgter Leistung im Sinne einer ex post-Betrachtung allein auf den Ort ankommen solle, an dem die Vertragsverpflichtungen erfüllt worden sind. *40 Genau vor diesem Hintergrund soll auch bei noch nicht erfolgter Erfüllung abgestellt werden, wo künftig tatsächlich entscheidende Handlungen zu erbringen sind. Folglich sollten bei bereits erfüllten Vertragspflichten die tatsächlichen Erfüllungsorte von Bedeutung sein, bei noch ausstehender Erfüllung sollte demgegenüber darauf abgestellt werden, wo die Erfüllung nach dem Vertrag tatsächlich zu erfolgen hat.

Zusätzlich zu der Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Eingriffsnormen des Staates, die mit dem Sachverhalt eine enge Verbindung aufweisen, wird in der neuen Rom I-Verordnung auch der Umfang deren Berücksichtigung präzisiert – nach Art. 9 Abs. 3 S. 1 Rom I-Verordnung kann nur solchen ausländischen Eingriffsnormen Wirkung verliehen werden, die die Erfüllung des Vertrages unrechtmäßig werden lassen. Die Eingriffsnormen des Erfüllungsortsstaates können somit auf den Vertrag nur ausschließend einwirken. *41 Doch auch dann, wenn der Erfüllungsort sich in einem anderen Staat befindet, kann die ausländische Eingriffsnorm nicht unbesehen hingenommen werden. Vielmehr bedarf es vorher einer inhaltlichen Überprüfung, ob sie mit der Rechtsordnung des Forumstaats vereinbar ist und ob andere Anwendungsvoraussetzungen erfüllt sind. *42  

3.2.3. Diskretion der Gerichte

Sowohl die bisherige Regulation (Art. 7 Abs. 1 EVÜ) als auch das geltende Recht (Art. 9 Abs. 3 Rom I-Verordnung) bestimmen – anders als bei der Eingriffsnormen der lex fori, die beim Vorliegen ihrer Anwendungsvoraussetzungen immer anzuwenden sind– dass ausländische Eingriffsnormen unter den in der Vorschrift genannten Voraussetzungen Wirkung verliehen können. Damit wird die Wirkungsverleihung in das freie Ermessen nationaler Gerichte gestellt – die Formulierung der Vorschrift stellt klar, dass die Wirkungsverleihung nicht etwa einem Automatismus folgt, sondern auf einer wertenden Entscheidung des Gerichts beruht, bei der die für und gegen die Wirkungsverleihung sprechenden Argumente gegeneinander abzuwägen sind. *43 Deshalb wird in der Literatur auch behauptet, eine solche Norm erinnere etwas an die Ermessensvorschriften des Verwaltungsrechts. *44

Allerdings darf der Richter die Anwendungsentscheidung nicht nach eigenem Gutdünken treffen, da die dafür maßgeblichen Entscheidungskriterien ihm in der Rom I-Verordnung vorgeschrieben sind. *45 Zunächst ordnet die Verordnung an, dass bei der Entscheidung, ob den ausländischen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, „Art und Zweck“ (oder „Natur und Gegenstand“ in EVÜ) dieser Normen zu berücksichtigen sind. Im Prinzip bedeutet es, dass eine Analyse des Normzwecks und der in der Vorschrift beinhalteten Werte durchgeführt werden muss. Bedauerlicherweise bleibt hier unklar, ob es erforderlich ist, dass das Gericht die ausländische Werte auch teilt oder ob es für deren Beachtung genügt, dass es sie zumindest nicht ablehnt. In der Literatur wird das Erfordernis einer positiven Anerkennung der ausländischen Wertung für rechtspolitisch überzeugender angesehen. *46 In der Praxis soll nach Ansicht der Autorin dieser Aufsatz aber genügen, wenn die in einer ausländischen Eingriffsnorm beinhalteten Werte nicht den inländischen Werten widersprechen.

Zweitens hat das Gericht bei der Entscheidung, ob den ausländischen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, die Rechtsfolgen deren Berücksichtigung bzw. Nichtberücksichtigung zu bedenken. Damit wird das Gericht über allgemeine außenpolitische Erwägungen hinausgehend zu einer Analyse verpflichtet, ob und in welchem Ausmaß die Berücksichtigung bzw. Nichtberücksichtigung der betreffenden Eingriffsnorm die inländischen aber auch ausländischen Staatsinteressen tatsächlich tangiert. *47 Es wird in der Literatur argumentiert, dass im Allgemeinen eher solche ausländische Eingriffsnormen berücksichtigt werden, die internationalen Standards entsprechen und international typisch sind. Dagegen können Normen, die das eigene Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ernsthaft stören würden oder die der Absicht andere Staaten zu diskriminieren oder zu schädigen dienen, nicht beachtet werden. *48 Dabei ist aber nicht nur von inländischen Staatsinteressen auszugehen – auch europäische Werte und Wertentscheidungen, die mittlerweile in zahlreichen Rechts- und Politikbereiche, insbesondere im Außenhandelsrecht getroffen wurden, spielen heutzutage bei der Entscheidung über die Berücksichtigung bzw. Nichtberücksichtigung eine immer wichtigere Rolle. Somit dürften z. B. solchen ausländischen Eingriffsnormen keine Wirkung verliehen werden, deren Anwendungsfolge eine Beschränkung des freien Warenverkehrs darstellen würde. *49

Zum Schluss muss darauf hingewiesen werden, dass weder das bisher gegoltene Recht noch die neuen Verordnungen dem Richter die Anwendung ausländischer Eingriffsnormen vorausgehend ganz auszuschließen ermöglichen – wenn erforderlich, muss er somit deren Berücksichtigung bzw. Nichtberücksichtigung zumindest erwägen. *50 Das heißt, das mitgliedstaatliche Gericht hat – in ähnlicher Weise wie bei ordre public-Überlegungen – auch bei der Berücksichtigung der ausländischen Eingriffsnormen die für eine Wirkungsverleihung in Betracht kommenden Normen in jedem Fall zunächst zu identifizieren und anschließend zu begründen, ob und warum ihrer Berücksichtigung inländische Wertungen entgegenstehen. Ferner sind die Kriterien eines richterlichen Beurteilungsspielraums dem Richter streng vorgeschrieben. Einerseits ist der Richter deshalb verpflichtet, die beiden genannten Entscheidungskriterien (Art und Zweck der ausländischen Norm und ihre Anwendungsfolgen) zu beachten, andererseits bedeutet der Zusammenhang mit den Entscheidungskriterien, dass andere Erwägungen von dem Richter nicht herangezogen werden dürfen. Deswegen besteht es nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-Verordnung eine Verpflichtung des Richters, sich mit den Zielen der ausländischen Eingriffsnorm und den Konsequenzen ihrer Anwendung auseinanderzusetzen und die Vereinbarkeit des Normzwecks mit der inländischen Rechtsordnung zu überprüfen. *51 Demzufolge ist der richterliche Beurteilungsspielraum, der auf den ersten Blick ziemlich groß erscheint, in Wirklichkeit stark eingeschränkt. Folglich, falls nach Ansicht des Richters alle Anwendungsvoraussetzungen der ausländischen Eingriffsnorm tatsächlich gegeben sind und es nicht den inländischen Werten widerspricht, fehlt dem Gericht ein Grund, ausländische Eingriffsnormen oder – wie jetzt in Rom I-Verordnung reguliert – Eingriffsnormen des Erfüllungsortsstaates nicht zu berücksichtigen.

4. Fazit

In dem vorstehenden Aufsatz wurde aufgezeigt, wie problematisch die Festlegung der Kriterien für die Bestimmung der Eingriffsnormen und ihrer Anwendungsvoraussetzungen ist. Zwar soll die expressis verbis Verwendung des Terminus „Eingriffsnormen“ in den neuen Rom I- und Rom II-Verordnungen die bisher bestehende Begriffswirrung zwischen einfach und international zwingenden Normen beenden und somit die Festlegung von Eingriffsnormen erleichtern. Als entscheidendes Kriterium für die Feststellung des international zwingenden Charakters einer Norm sollen deren Anwendungswille – d.h. Wille, unabhängig vom anwendbaren Recht gelten zu wollen – und der staatspolitische Zweck der Norm dienen. Es bedeutet, dass die fragliche Norm primär überindividuelle Gemeinwohlzwecke verfolgt und sie auch gegen ein an sich geltendes, anderes Recht zwingend durchsetzen will.

Die Untersuchung der zwei Arten von Eingriffsnormen – internen Eingriffsnormen oder Eingriffsnormen der lex fori und externen oder ausländischen Eingriffsnormen hat gezeigt, dass für deren Anwendung diverse Voraussetzungen vom Richter zu beachten sind. Die Vorbehaltslösung des EVÜ ist in der Rom I-Verordnung nicht mehr vorgesehen und folglich sind jetzt alle Mitgliedstaaten unter gewissen Umständen verpflichtet, auch ausländische Eingriffsnormen zu berücksichtigen. Obwohl die Beachtung der beiden Arten von Eingriffsnormen trotz fehlender Nennung im Wortlaut der Rom I-Verordnung einer hinreichenden Inlandsbeziehung bedarf, ist der Anwendungsbereich der ausländischen Eingriffsnormen im Vergleich zu inländischen Eingriffsnormen weitaus enger. Ferner wird der Umfang deren Berücksichtigung in der Rom I-Verordnung nur auf solchen ausländischen Eingriffsnormen eingeschränkt, die die Erfüllung des Vertrages unrechtmäßig werden lassen. Außerdem werden die Kriterien eines richterlichen Beurteilungsspielraums für die Berücksichtigung bzw. Nichtberücksichtigung der betreffenden Eingriffsnorm in der neuen Regulation dem Richter streng vorgeschrieben.

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pp.199-206