Penal Law Reform and New Penal Law: Estonia in Europe
VIII/2003
ISBN 9985-870-17-4
Issue
Es dürfte unbestritten sein: In Estland ist ein modernes europäisches StGB in Kraft getreten. Dem voraus ging ein längerer Reformprozeß während der Transformation nach dem politischen Systemwechsel der Jahre 1989/1990. Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg durfte an diesem Reformprozeß insoweit teilhaben, als es über wesentliche Schritte aus erster Hand informiert und in die wissenschaftliche Diskussion einbezogen wurde. Ich erinnere an die Tagung „Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht“, die 1992 in Buchenbach bei Freiburg stattfand.*1 Von Jaan Sootak, der schon damals ein wichtiger Gast unseres Hauses war, erfuhren wir in kontinuierlicher Weise Wesentliches über Stand und Tendenzen der Strafrechtsreform in Estland. Zwei – auch theoretisch wichtige – Gesichtspunkte galten dabei dem Verbrechensbegriff sowie dem Menschenrechtsschutz durch Strafrecht. Auf beiden Fragen soll der Schwerpunkt meiner Ausführungen liegen.
1. Der Verbrechensbegriff
Deutsches, schwedisches und russisches bzw.sowjetisches Recht waren grundlegende historische Einflüsse, die das estnische Strafrecht geprägt hatten, wobei das StGB, das es in der Transformation zu reformieren galt, einem originär sowjetischen Einfluß unterlegen war. Jaan Sootak hatte auf der erwähnten Konferenz des Jahres 1992 darauf aufmerksam gemacht, daß eine Übergangsphase zwischen totalitärem und rechtsstaatlichem Strafrecht kaum vermeidbar sei und eine radikale und sofortige Abkehr vom sowjetischen Strafrecht nicht sinnvoll erscheine. Bei dieser Einschätzung nannte er hinsichtlich des Verbrechensbegriffs die Notwendigkeit, diesen an westeuropäischen Vorbildern auszurichten. Dies sei jedoch zeitraubend und setze wissenschaftliche rechtsvergleichende Untersuchungen voraus. *2
Auf einer Konferenz, die erst vor wenigen Monaten auf Schloß Ringberg bei München stattfand – sozusagen im Anschluß an die Buchenbacher Konferenz des Jahres 1992 – konnte Jaan Sootak nunmehr feststellen, daß mit dem neuen StGB auf das sowjetische Strafrecht verzichtet und entschieden wurde, den neuen Verbrechensaufbau nach dem Muster der deutschen Strafrechtsdogmatik herauszuarbeiten: Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld sind jetzt die entscheidenden Elemente. *3 Damit ist der Begriff der Gesellschaftsgefährlichkeit, wie er für den sogenannten materiellen Verbrechensbegriff sowjetisch-sozialistischer Rechtstradition typisch war, weggefallen.
Dieses Ergebnis der estnischen Strafrechtsreform ist nicht unbedingt selbstverständlich, wenn man bedenkt, daß es in der Strafrechtswissenschaft der Transformationsländer nicht unumstritten ist, einen Verzicht auf den materiellen Verbrechensbegriff als unabdingbar und als Ausdruck besonderer Rechtsstaatlichkeit aufzufassen. Das hat sich auch in der Gesetzgebung niedergeschlagen. Neue Strafgesetzbücher wie etwa das in Polen oder in Rußland haben mit dem materiellen Verbrechensbegriff nicht vergleichsweise radikal gebrochen wie Estland. Dabei steht in diesen Strafgesetzbüchern im Zusammenhang mit dem materiellen Verbrechensbegriff insbesondere die Nichtbestrafung wegen Geringfügigkeit im Vordergrund. Zunächst heißt es in Artikel 14 Abs. 1 des russischen StGB:
„Als Straftat gilt eine schuldhaft begangene gesellschaftsgefährliche Tat, die durch dieses Gesetzbuch unter Androhung von Strafe verboten ist.“
Und Abs. 2 legt fest:
„Als Straftat gilt nicht eine Handlung (Unterlassung), die zwar formal die Merkmale einer in diesem Gesetzbuch vorgesehenen Tat enthält, jedoch wegen Geringfügigkeit keine gesellschaftliche Gefahr darstellt, das heißt keinen Schaden herbeigeführt und keine Drohung der Herbeiführung eines Schadens für die Person, die Gesellschaft oder den Staat geschaffen hat.“
Im Jahre 1998 wurde der letzte Halbsatz in Abs. 2 „das heißt keinen Schaden herbeiführt und keine Drohung der Herbeiführung eines Schadens für die Person, die Gesellschaft oder den Staat geschafften hat.“ durch die Gesetzgebung wieder gestrichen. In der russischen Strafrechtswissenschaft herrscht Unklarheit darüber, inwieweit sich diese Streichung auf die Definition der Straftat auswirkt. Zum einen wird die Auffassung vertreten, daß trotz dieser Streichung die „gesellschaftliche Gefährlichkeit“ in Abs. 1 ausreichend konkretisiert sei. Zum anderen existiert die Meinung, daß man nun überhaupt vom Merkmal der Gesellschaftsgefährlichkeit Abstand nehmen müsse. *4 Zu hören ist sogar die Vermutung, daß die Konkretisierung der Gesellschaftsgefährlichkeit im Zusammenhang mit dem Tschetschenien-Konflikt wieder rückgängig gemacht worden sei. *5
Im polnischen StGB wird der materielle Verbrechensbegriff mit dem Wort „sozialschädlich“ umschrieben. In Artikel 115 § 2 sind die Elemente der Sozialschädlichkeit im einzelnen aufgeführt, worauf ich im Rahmen meines Vortrages nicht näher eingehen kann. Wenn die Sozialschädlichkeit der Tat geringfügig ist, handelt es sich nach polnischem Recht nicht um eine Straftat, so daß auch eine Bestrafung nicht in Betracht kommt. *6
Ich hatte bereits vor vier Jahren in Litauen, als der Entwurf eines Allgemeinen Teils des litauischen StGB diskutiert wurde *7 ,darauf hingewiesen, daß die Kritik an dem beibehaltenen materiellen Verbrechensbegriff in Ländern wie Rußland und Polen nicht immer differenziert genug zu erfolgen scheint und wohl auch nicht immer die angestrebten Vorteile dieses Begriffs berücksichtigt werden, nämlich auf eine materielle Entkriminalisierung im Bagatellbereich zu zielen. Zu wenig wissenschaftliche Beachtung haben bisher die Argumente der Befürworter einer Beibehaltung des Begriffs der Gesellschaftsgefährlichkeit gefunden. So hat für Polen Andrzej Zoll wiederholt darauf aufmerksam gemacht, das Geringfügigkeitsprinzip (nullum crimen sine periculo sociale) als eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Strafrecht anzusehen. *8 Interessant ist auch der Hinweis, daß die Rechtswidrigkeit die Form sei, die Gesellschaftsgefährlichkeit aber ihr sozialer Inhalt. *9
Andererseits scheint bislang kaum danach gefragt worden zu sein, ob auf den sowjetischen Begriff der Gesellschaftsgefährlichkeit nicht auch ein bestimmtes Naturrechtsdenken von gewissem Einfluß war; etwa das Naturrecht von Hobbes, das die Freiheit des Einzelnen unmittelbar mit dem Staat verknüpfte. Nach dem materiellen Verbrechensbegriff bei Hobbes ist das Verbrechen in erster Linie eine Verletzung des Willens des Souveräns. Das Verbrechen besteht in einem Vertragsbruch zu Ungunsten des Herrschers und gerade nicht zu Ungunsten des Mitmenschen, da der Untertan seine Naturrechte dem Souverän abgetreten hatte. Möglicherweise entstand nicht zuletzt auf dieser Grundlage ein „sozialistisches Naturrecht“ mit einer Generalklausel der Gesellschaftsgefährlichkeit, die sich in einem zum Staatssozialismus pervertierten Rechtssystem leicht gegen die Freiheit des Individuums mißbrauchen ließ. Es erscheint auch vor diesem Hintergrund nicht völlig geklärt, ob der „materielle Verbrechensbegriff“ mit einem freiheitlichen Strafrecht vereinbar ist. Es spricht manches dafür, daß allein schon zur Vermeidung einer solchen Klärung der Weg, den Estland beschritten hat, vernünftig ist. Vermieden werden damit letztlich auch Probleme mit dem Bestimmtheitsgebot, worauf Hans Joachim Hirsch bereits auf einem Seminar über die Entwicklungswege des estnischen Strafrechts in Tartu 1994 und 1995 aufmerksam gemacht hatte. *10
Dennoch stellt es eine gewisse Überraschung dar, daß bei solch strikter Ablehnung des materiellen Verbrechensbegriffs und bei einem dreistufigen Verbrechensaufbau, der sich ausdrücklich an das deutsche Strafrecht anlehnt, das estnische StGB die Ordnungswidrigkeiten in den Regelungsbezug des Strafgesetzes aufnimmt.
Der bisher im Recht Estlands für Ordnungswidrigkeiten geltende Begriff der Verwaltungsrechtsverletzung ist durch den nunmehr im StGB verwandten Begriff „Missetat“ ersetzt worden. Die Ordnungswidrigkeiten sind mit einer Geldbuße oder Arrest von maximal 30 Tagen bedroht. Die Teilnahme an Ordnungswidrigkeiten sind nicht strafbedroht und Nebenstrafen sind nicht vorgesehen. Während im Fall einer Straftat die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung ausdrücklich gesetzlich angeordnet sein muß, werden Missetaten generell nicht nur bei Vorsatz, sondern auch bei bloßer Fahrlässigkeit geahndet. Neben dem StGB werden Ordnungswidrigkeitentatbestände auch künftig im Ordnungswidrigkeitengesetz sowie in Spezialgesetzen geregelt sein. *11
Es ist nicht ganz klar, welche Konzeption diesem Regelungszusammenhang der Ordnungswidrigkeiten im neuen estnischen StGB zugrunde liegt, zumal das Strafgesetz für Straftaten und Ordnungswidrigkeiten einen gemeinsamen Oberbegriff verwendet. Wenn er richtig übersetzt wurde, dann heißt er „schuldhafte Taten“. Eine Integration von Ordnungswidrigkeiten in das Strafgesetzbuch ist auch rechtsvergleichend interessant und verdient der näheren Untersuchung. Soweit ich es sehe, ist ein solcher Weg eher ungewöhnlich, was allein schon am ganz unterschiedlichen internationalen Verständnis von Ordnungswidrigkeiten und deren Systematik etwa als Verwaltungsstrafrecht, als Polizeideliktsrecht, Ordnungs- und Disziplinarstrafrecht oder auch als Übertretungsstrafrecht liegen mag, worauf länger zurückliegende Forschungen des Max-Planck-Instituts, namentlich von Mattes, zur Lehre von den Ordnungswidrigkeiten hinweisen. *12 Möglicherweise weist das StGB Estlands gewisse Parallelen zum Übertretungsstrafrecht Frankreichs auf. Die im Code pénal geregelten Übertretungen – ein Begriff, der im französischen Strafrecht für Bagatelldelikte steht – gelten neben Verbrechen und Vergehen allerdings als Straftaten *13 , was für die Ordnungswidrigkeiten im estnischen StGB nicht der Fall zu sein scheint.
Wäre man in Estland auch hinsichtlich der Ordnungswidrigkeiten dem deutschen Weg gefolgt, was selbstverständlich keinesfalls angemahnt werden soll – nichts liegt mir ferner als Rechtsimperialismus –, dann hätte es einen interessanten Bezug zum Begriff der Gesellschaftsgefährlichkeit gegeben. Denn im deutschen Recht, wo die Ordnungswidrigkeiten nicht im StGB geregelt sind, wird von der materiellen Definition der Ordnungswidrigkeit ausgegangen und dabei von den Kriterien der Strafwürdigkeit. Ich zitiere aus dem Lehrbuch des Strafrechts von Hans-Heinrich Jescheck und Thomas Weigend:
„Die Ordnungswidrigkeit stimmt mit der Straftat darin überein, daß sie ebenfalls einen so erheblichen Grad von Gefährlichkeit des Angriffs auf das geschützte Rechtsgut oder Verwaltungsinteresse aufweist, daß nur eine repressive Sanktion des Staates zum Schutze der öffentlichen Ordnung ausreicht, und sie unterscheidet sich in diesem Punkte von der Vertragsverletzung und der bloßen Polizeiwidrigkeit. Auf der anderen Seite ist ihr Gefährlichkeitsgrad in der Regel erheblich geringer als der der Straftat. Auch der Grad der Beeinträchtigung des geschützten Handlungsobjekts ist meist geringfügig. Was die Ordnungswidrigkeit weiter deutlich von der Straftat unterscheidet, ist das Fehlen jenes hohen Grades von Verwerflichkeit der Tätergesinnung, welcher allein das schwere sozialethische Unwerturteil der Kriminalstrafe rechtfertigt. Bei der Ordnungswidrigkeit ist nur ein ‚Denkzettel‘, ein verschärfter‚ Verwaltungsbefehl‘, eine ‚besondere Pflichtenmahnung‘ in Gestalt der Geldbuße vertretbar, da die Grenze der unerträglichen Sozialwidrigkeit der Tat nicht erreicht ist.“ *14
In diesen Aussagen sind wesentliche Elemente des Begriffs der Gesellschaftsgefährlichkeit enthalten, freilich im Kontext der Abgrenzung zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit. Allerdings war auch dies dem materiellen Verbrechensbegriff des Strafrechts sowjetischen Einflusses nicht fremd. So besagte beispielsweise § 3 Abs. 2 des Strafgesetzbuches der DDR, daß eine Handlung, die zwar dem Wortlaut nach einem gesetzlichen Straftatbestand entspricht, jedoch weder gesellschaftsgefährlich noch gesellschaftswidrig ist, u.a. als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden kann.
Für die deutsche Strafrechtswissenschaft könnte sich aus der Beobachtung der Entwicklung bzw. Aufhebung des materiellen Verbrechensbegriffs in den Transformationsländern, namentlich in Estland, wichtige Gesichtspunkte des Nachdenkens sowohl über die Regelungssystematik der Ordnungswidrigkeiten als auch über Wege materieller Entkriminalisierung ergeben.
2. Menschenrechtsschutz durch Strafrecht am Beispiel völkerstrafrechtlicher Tatbestände
Mit großem Interesse habe ich auch jene Passagen im StGB Estlands gelesen, die dem Schutz und der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen gilt. Dieses Interesse resultiert nicht zuletzt aus einem neuen Projekt des Max-Planck-Instituts zum Thema „Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen im internationalen Vergleich“. Konzipiert wurde das Projekt vor dem Hintergrund des Rom-Statuts für einen Internationalen Strafgerichtshof.Im Kontext des Projekts spielen dabei zwei Aspekte eine besondere Rolle.Zum einen enthält das Rom-Statut in Art. 17 den Grundsatz der Komplementarität. Danach ist eine Strafverfolgung durch den IStGH nur dann zulässig, wenn und insoweit eine effektive Strafverfolgung auf nationaler Ebene an rechtlichen oder faktischen Hindernissen scheitert. Es liegt somit im eigenen Interesse der einzelnen Staaten, die Mitglied des Statuts sind, zu einer Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen zumindest in gleichem Umfang wie der IStGH in der Lage zu sein. Zum anderen geht das Rom-Statut in Abs. 6 seiner Präambel davon aus, daß die Staaten unabhängig vom Statut durch das Völkergewohnheitsrecht zu einer Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen verpflichtet sind. In vielen Staaten wird deshalb darüber diskutiert, ob und inwieweit eine Anpassung des nationalen Strafrechts an die materiellen Strafnormen des Rom-Statuts einerseits und des Völkergewohnheitsrechts andererseits erforderlich oder jedenfalls sinnvoll ist. In einer Reihe von Staaten wurden dazu schon Regelungen erlassen, zum Teil bereits weit vor Inkraftreten des Rom-Statuts. Forschungsgegenstand unseres rechtsvergleichenden Projekts ist es zu untersuchen, wie und in welcher Weise die Strafrechtsordnungen verschiedener Staaten die Ahndung von Völkerstraftaten durch eigene nationale Gerichte vorsehen bzw. ermöglichen, welche Defizite gegenüber dem geltenden Völkerrecht im Hinblick auf eine solche nationale Strafgewalt bestehen und welche Reformen zur Ermöglichung einer nationalen Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen durchgeführt wurden oder geplant sind. *15 Im folgenden kann ich mich lediglich auf die Frage konzentrieren, ob und inwieweit die Straftatbestände des Rom-Statuts – also Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen – im nationalen Strafrecht bereits geregelt sind. Dazu möchte ich einige erste Ergebnisse mitteilen.
Ein großer Teil der in unsere Untersuchung über 30 einbezogenen Länder hat in ihren Strafgesetzen die genannten materiellen Völkerstraftatbestände normiert. In einem kleineren Teil der untersuchten Länder existieren spezielle Gesetze.Dazu zählt auch Deutschland mit einem eigenständigen Völkerstrafgesetzbuch. In wenigen Ländern, wie beispielsweise in Rußland, aber auch in Dänemark und Schweden, ist der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit nicht geregelt. Als Fußnote sei angefügt, daß Rußland bekanntlich das Rom-Statut bislang nicht ratifiziert hat, womit es sich einreiht in Länder wie die
Wie ist die Situation in Estland?
Estland gehört zu jenen Ländern, die die entsprechenden Völkerstraftatbestände im Strafgesetzbuch geregelt haben. Dies sind die Paragraphen 89 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit), 90 (Völkermord) sowie 94 ff. (Kriegsverbrechen). Da Estland das Rom-Statut sowohl signiert wie auch ratifiziert hat, ist ein Vergleich der nationalen Völkerstraftatbestände des StGB mit dem Rom-Statut interessant. Dabei fallen Unterschiede insbesondere bei der Vorschrift zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf.
In Artikel 7 des Rom-Statuts sind die Handlungen im Einzelnen aufgeführt, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen werden müssen. Nach der englischen Übersetzung des Artikel 89 des estnischen StGB gelangt man im ersten Teil der Vorschrift zu dem Eindruck, daß der systematische Angriff allgemein auf Menschen- und Freiheitsrechte bezogen wird und damit weiter gefaßt ist als der Angriff auf die Zivilbevölkerung. Ferner wird in Artikel 89 bei dem Angriff auf die Menschen- und Freiheitsrechte nur von einem Staat oder einer Gruppe als Angreifende gesprochen. Erst im zweiten Teil von Artikel 89 – der die einzelnen Handlungen bestimmt – erscheint der Kontext auch zum Individuum des einzelnen Täters.Dies allerdings erfolgt letztlich beziehungslos zur Notwendigkeit eines systematischen Angriffs. Es erhebt sich somit insbesondere die Frage nach dem konkreten Regelungsgehalt und der Reichweite von Artikel 89 des StGB Estlands und zur Verbindung beider Teile dieser Vorschrift.
Besonders interessant ist freilich ein Tatbestand, den das estische StGB enthält, das Rom-Statut demgegenüber aber nicht. Ich meine den Tatbestand der Aggression (§ 91 StGB Estlands).Damit befindet sich Estland in Gesellschaft nur einiger weniger Länder wie Rußland, Italien und Deutschland. Im Rom-Statut findet sich deswegen keine Bestimmung der Aggression, weil – wovon in Artikel 5 Abs. 2 des Statuts ausgegangen wird – eine Definition des Verbrechens der Aggression fehle. Zu dieser Feststellung des Rom-Statuts muß jedoch angemerkt werden, daß die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahre 1974 nach jahrzehntelangem völkerrechtlichen Streit über Beginn und Absicht des Angriffskrieges eine Aggressionsdefinition angenommen hatte. Sie lautet:
„Wendet ein Staat als erster Waffengewalt unter Verletzung der Charta an, so stellt dies einen Beweis des ersten Anscheins für eine Angriffshandlung dar, obwohl der Sicherheitsrat gemäß der Charta zu dem Schluss gelangen kann, dass eine Feststellung, es sei eine Angriffshandlung begangen worden, nicht gerechtfertigt wäre angesichts anderer bedeutsamer Umstände, einschließlich der Tatsache, dass die betreffenden Handlungen oder ihre Folgen nicht von ausreichender Schwere sind.“ *16
Die Definition legt sodann verschiedene Formen direkter oder indirekter Gewalt als Aggression fest. *17
Vor dem genannten Hintergrund wäre es wichtig zu erfahren, ob Länder wie Estland, die einen Tatbestand der Aggression in ihr nationales Strafrecht aufgenommen haben, die Aggression im gerade wiedergegebenen Sinne definieren. Hinsichtlich des § 91 des estnischen StGB fällt auf, daß hier einzig und allein nur die Vorbereitung einer Aggression und die Drohung mit einer Aggression unter Strafe gestellt sind. Die Durchführung derselben bleibt strafrechtlich außer Betracht, was den Schluß nahe legt, daß sie lediglich im Rahmen der Kriegsverbrechen (§§ 94 ff.) erfaßt ist.
Von den Ländern, die einen Aggressionstatbestand geregelt haben, scheint Rußland am weitesten zu gehen. In Art. 353 des russischen StGB ist die Planung, Vorbereitung, Entfesselung und Führung eines Angriffskrieges unter Strafe gestellt. Obwohl in Deutschland und Italien – und damit anders als in Estland – auch die Führung eines Angriffskrieges strafbar ist, läßt sich dennoch auch für diese Länder nicht von einem echten völkerstrafrechtlichen Tatbestand sprechen, da jeweils noch ein Inlandsbezug gefordert ist, nämlich die Gefahr eines Krieges für Deutschland bzw. Italien.*18 Insofern ist es zwar – wie ich finde – zu bedauern aber eben leider auch folgerichtig, daß das deutsche Völkerstrafgesetzbuch den Begriff der Aggression noch nicht einmal erwähnt.
Ich komme zum Schluß.
Auch die im estnischen StGB enthaltenen Völkerstraftatbestände eignen sich in hervorragender Weise dazu, die wissenschaftliche Diskussion – und hier speziell das Völkerstrafrecht – weiterzuentwickeln und einen wichtigen Beitrag zum Menschenrechtsschutz durch Strafrecht zu leisten. Da diese Materie aber äußerst komplex ist, wird die vorgesehene Diskussion der Tagung freilich kaum erschöpfend geführt werden können. Da Estland noch nicht in das einschlägige völkerstrafrechtliche Projekt des Max-Planck-Instituts einbezogen ist, sollten meine Ausführungen im zweiten Teil des Vortrages auch ein wenig Werbung sein, um genau diesen Mangel zu beheben.
pp.11-15