Search Menu

JURIDICA INTERNATIONAL. LAW REVIEW. UNIVERSITY OF TARTU (1632)

Issues list

Issues

Penal Law Reform and New Penal Law: Estonia in Europe

VIII/2003
ISBN 9985-870-17-4

Cover image
Download

Issue

PDF

Strafrechtlicher Vorsatz: Die neuesten Entwicklungen in der schwedischen Wissenschaft und Praxis

1. Einführung

Die Schuldformen, die im schwedischen Strafrecht bekannt sind (Vorsatz und Fahrlässigkeit), werden gewöhnlich mit Hilfe von zwei Elementen erklärt, die ebenfalls der Bildung dieser Schuldformen dienen. Das erste Element ist das Wissen des Täters, das sich auf diejenigen Umstände bezieht, welche den Tatbestand erfüllen (das kognitive Element). Beim zweiten Element betrachtet man die innere Einstellung des Täters zu diesen Umständen (das sog. voluntative Element). Im Rahmen der sog. klassischen Vorsatzlehre unterscheidet man – nach der schwedischen Terminologie – direkten Vorsatz, indirekten Vorsatz und Eventualvorsatz, sowie bewusste Fahrlässigkeit und unbewusste Fahrlässigkeit.

Der direkte Vorsatz liegt vor, wenn der Täter weiss (mit praktischer Sicherheit), dass er mit seinem Handeln einen bestimmten, strafrechtlich relevanten Erfolg verursacht und der strafrechtliche Erfolg ist auch das, wonach er strebt.

Der Unterschied zwischen der direkten und indirekten Vorsatz liegt nicht im kognitiven Element. Sowohl der direkte als auch indirekte Vorsatz erfordern das gleiche Maß an Täterwissen hinsichtlich des Handlungs­erfolges. Der Unterschied besteht in der inneren Einstellung des Täters zum Erfolg. Das Verhältnis beschreibt man auf die Art und Weise, dass der Täter, der mit indirektem Vorsatz handelt, nicht nach dem strafrechtlichen Erfolg strebt, sondern dieser erscheint lediglich als eine Art „Nebenprodukt“ seines Handelns. Das Handeln selbst hat einen anderen Zweck, z. B. eine andere Straftat, oder etwas, das an für sich nicht rechtswidrig zu sein braucht. Die Akzeptanz des strafrechtlichen Erfolgs durch den Täter rührt von seinem Wissen her, dass sein Handeln etwas Bestimmtes verursachen wird.

Die oben erwähnten Schuldformen stellen aus der Sicht der praktischen Anwendung keine besonderen Probleme dar, abgesehen von eventuellen Beweisproblemen. Wie bekannt ist, beginnen die wirklichen Probleme, wenn man nicht feststellen kann, dass der Täter „volles“ Wissen hatte oder hätte haben müssen, es aber ausser Zweifel steht, dass der Täter das (beachtliche) Risiko eingesehen hat, dass sein Handeln zu einem Erfolg führen kann, der eine Straftat darstellt, z. B. das jemand getötet oder verletzt wird und er trotz dieser Einsicht die Handlung vornimmt und das Risiko sich im Erfolg verwirklicht. Es obliegt dem Gericht zu entscheiden, ob ein solches Handeln als eine vorsätzliche Tat anzusehen ist oder ob es das Handeln lediglich als fahrlässig beurteilen soll. Mit anderen Worten geht es um die Entscheidung, ob der Täter mit Eventualvorsatz, der die dritte Vorsatzform nach geltendem schwedischen Recht ist, oder bewusst fahrlässig gehandelt hat.

Man muss nicht erwähnen, dass diese Entscheidung eine enorme Bedeutung für den Angeklagten hat. Es geht dabei um die Grenzziehung zwischen vorsätzlichen und fahrlässigen Straftaten, die oft beträchtlich unterschiedliche Strafandrohungen haben. In den Fällen, in denen der Gesetzgeber nur Vorsatztaten mit Strafe bedroht, handelt es sich um Grenzen zwischen rechtswidrigen und rechtmäßigen Handlungen. Es ist gerade auf diesem Gebiet, wo man in Schweden sowohl in der Strafrechtswissenschaft und Gesetzgebung und vor kurzem auch in der Praxis versucht hatte, neue Lösungen einzuführen. Dies werde ich später darlegen und diskutieren.

Der Vollständigkeit halber soll dargelegt werden, dass die letzte Schuldform, die im schwedischen Recht Anwendung findet, die unbewusste Fahrlässigkeit ist. Hierbei fehlt dem Täter das Wissen hinsichtlich der strafrechtlich relevanten Umstände. Daher macht es keinen Sinn, seine innere Einstellung zu untersuchen. Dem Täter können wir vorwerfen, dass er sich das nötige Wissen nicht beschaffen hat. Das hätte er mit Rücksicht auf seine Stellung und die übrigen Umstände tun müssen. Es kann vorwerfbar sein, wenn man handelt, ohne die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen vorgenommen zu haben.

2. Die Grenzziehung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit

Die Situation, in der der Täter das beachtliche Risiko, dass sein Handeln zu einem Erfolg führen kann, eingesehen hat, und er trotz dieser Einsicht die Handlung vornimmt und das Risiko sich im Erfolg verwirklicht, ist in der Praxis sehr gewöhnlich. In diesem Fall kann man also den Täter für eine vorsätzliche oder bewusst fahrlässige Straftat verurteilen.

Wie bekannt ist, hat man in der Strafrechtsdoktrin und Praxis viele Methoden, etwa die „normativen Denkmodelle“, ausgearbeitet, deren Zweck es ist, den Gerichten einen Leitfaden an die Hand zu geben, um zu beurteilen, ob der Angeklagte für eine vorsätzliche oder bewusst fahrlässige Tat verurteilt werden soll. Der Zweck dieser Modelle ist es, die Voraussetzungen für die sichere und eindeutige Beantwortung der Frage zu schaffen, welche innere Einstellung der Täter zum Zeitpunkt der Tat hatte. Da die einzelnen Denkmodelle an verschiedenen Tatsachenfeststellungen des Gerichts anknüpfen, ist ihr weiteres, wichtiges Ziel die Absicherung der Gleichheit vor dem Gesetz und der Rechtssicherheit: in jedem einzelnen Fall soll man von der selben Art von Tatsachenfeststellungen ausgehen.

Im schwedischen Strafrecht hat man traditionell drei verschiedene Methoden für die Grenzziehung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit angewendet bzw. diskutiert.

In vielen Strafsachen hat das schwedische Oberste Gericht eine sog. „hypothetische Prüfung“ durchgeführt. *1 In der deutschen Strafrechtslehre spricht man von der sog. Frankschen Formel. Bei dieser Methode fragt man, ob der Täter, der das Risiko eingesehen hat und trotz dieses Risikos handelt, auch so gehandelt hätte, wenn er sich sicher sein könnte, dass das verbrecherische Erfolg sich verwirklicht. Wagt das Gericht, auf diese hypothetische Frage bejahend zu antworten, wird der Angeklagte für eine vorsätzliche Straftat verurteilt.

Meines Wissens nach gibt es in Europa keine andere Rechtsordnung, in der diese hypothetische Prüfung noch durchgeführt wird. In der deutschen Praxis und Doktrin hat man sich von der Frankschen Formel vor etwa 100 Jahre abgekehrt. Eine hypothetische Prüfung als eine Art der Feststellung des Eventualvorsatzes zeigt wesentliche Schwächen und hat grundsätzliche Einwände hervorgerufen. Es ist an sich verwunderlich, dass das schwedische Oberste Gericht auf der Anwendung dieser Methode besteht, die offensichtlich ein systemfremdes Element im schwedischen Strafrecht darstellt. Schon an dieser Stelle kann bemerkt werden, dass das Bemühen, die schwedischen Gerichte zur Abkehr von dieser hypothetischen Prüfung zu bewegen, eines der wichtigen Gründe für die neu vorgeschlagenen Änderungen des Vorsatzbegriffs ist, über die ich in Kürze reden werde.

Aufgrund der Praxis des Obersten Gerichts wird daher die Durchführung der hypothetischen Prüfung als geltendes Recht angesehen. Das Bild ist aber nicht eindeutig. In vielen Fällen, in denen die Grenzziehung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit aktualisiert wurde, hat das Oberste Gericht andere Überlegungen angestellt. Anstatt die hypothetische Frage zu formulieren, stellte das Oberste Gericht fest, dass die konkreten Umstände der Tat, z. B. die Art und Weise, wie der Angeklagte die Tat durchgeführt hatte, zeigen, dass der Täter jedenfalls dem verbrecherischen Erfolg gegenüber gleichgültig eingestellt war, und verurteilte ihn für eine vorsätzliche Straftat.*2

Schließlich forderte der „Reichsankläger“ vor dem Obersten Gericht in zwei Fällen*3 , dass der Angeklagte für eine vorsätzliche Straftat zu verurteilen ist und zwar mit der Begründung, dass der Angeklagte erkannt hat, dass der strafrechtliche Erfolg mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eintritt. Das war folglich ein Ver­such, das Oberste Gericht zu einer Abkehr von der hypothetischen Prüfung zu veranlassen, um andere Über­legungen zur Grenzziehung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit anzustellen. In beiden Fällen hat das Oberste Gericht die Anklage für eine vorsätzliche Tat abgewiesen, nachdem es die hypothetische Prüfung durchgeführt hatte. Es gibt Gründe anzunehmen, dass besonders diese zwei Fälle zu der allgemeinen Auffassung beigetragen haben, was geltendes Recht ist.

Soweit es um die drei gerade vorgestellten Methoden der Grenzziehung zwischen Eventualvorsatz und be­wusster Fahrlässigkeit geht, spricht man in der schwedischen Strafrechtslehre und Praxis über den „hypothe­tischen Vorsatz“ (hypotetiskt uppsåt), „Gleichgültigkeitsvorsatz“ (likgiltighetsuppsåt) und „Wahrscheinlich­keitsvorsatz“ (sannolikhetsuppsåt). Anstelle von „Gleichgültigkeitsvorsatz“ spricht man manchmal auch vom „faktischen Eventualvorsatz“, was meines Erachtens vorzuziehen ist.

3. Vorschlag zur Einführung von neuen Vorsatzformen im schwedischen Strafrecht

Der Vorschlag für eine neue Ausformung von Schuldformen im schwedischen Strafrecht, genauer gesagt vom Vorsatzbegriff, der im Folgenden behandelt wird, wurde im Gutachten Straffansvarets gränser (SOU 1996:185, Die Grenzen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit) vorgestellt. Der Vorschlag geht von einer kri­tischen Analyse der herrschenden Rechtspraxis hinsichtlich vorsätzlicher Straftaten aus, insbesondere wenn es um die Grenzziehung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit geht. Die Kritik richtet sich, wie gesagt, in erster Linie gegen die Anwendung der hypothetischen Prüfung. Die theoretische Begründung des Vorschlages findet man bei Jareborg.*4

Der Vorschlag des Gutachtens ist ziemlich radikal. Würde der Vorschlag durchgeführt, würde es bedeuten, dass man im schwedischen Strafrecht zum ersten Mal eine Legaldefinition des Vorsatzes einführen würde, die wie folgt lautet:

„Eine Tat wird vorsätzlich begangen, wenn sie mit Absicht begangen wird, oder wenn sie dem entspricht, was der Täter in Bezug auf die Tat eingesehen, erkannt oder angenommen hat“.

Eine Definition von „Fahrlässigkeit“ wurde nicht vorgeschlagen.

Gemäß dem Vorschlag sollen folglich zwei Vorsatzformen eingeführt werden. Die erste Form wurde „Absichts­vorsatz“ genannt, die andere „Einsichtsvorsatz“. Der Absichtsvorsatz entspricht dem direkten Vorsatz nach gelten­­dem Recht. Das bedeutet, dass der Täter mit Absichtsvorsatz handelt, der nach dem strafrechtlichen Er­folg strebt, von dem er weiss, dass er ihn durch sein Handeln verursacht hat. Die andere Form, der Einsichts­vorsatz, würde die Fälle umfassen, die nach geltendem Recht unter den indirekten Vorsatz und Eventualvorsatz fallen.

Der Einsichtsvorsatz bezieht sich auf das kognitive Element. Man unterscheidet zwischen drei verschiedenen kognitiven Einstellungen. Der Täter handelt zunächst mit Vorsatz, wenn er einsieht, dass sein Handeln zum strafrechtlichen Erfolg führen wird. Hierbei handelt es sich um dieselbe Art der kognitiven Einstellung wie beim indirekten Vorsatz. Des weiteren handelt derjenige vorsätzlich, der bei der Tat erkennt oder annimmt, dass der strafrechtliche Erfolg verwirklicht werden kann. Diese zwei Ausdrücke (erkennen und annehmen) umschreiben einen niedrigeren Grad der Gewissheit als die „Einsicht“ des Täters. Wenn der Täter etwas erkennt oder annimmt, handelt es sich um seine Ansicht, dass ein strafrechtlich relevantes Risiko besteht.

Im Gutachten werden die Verhältnisse zwischen den genannten kognitiven Elementen wie folgt beschrieben:

„Einsicht“ sollte oft angesehen werden als ein eher intellektueller Prozess gegenüber der „Erkenntnis“, die man eher als eine passive Wahrnehmung ansehen kann. Der Grad der Einsicht bei der Erkenntnis kann, muss aber nicht notwendigerweise niedriger sein. „Annahme“ deutet auf der einen Seite mehr auf eine aktive Beurteilung hin – eine Wirklichkeitsvorstellung, die der Täter zum Ausgangspunkt seines Handelns nimmt – kann aber auf der anderen Seite als ein niedrigerer Grad der Einsicht als „Erkenntnis“ angesehen werden.Eine präzise Grenzziehung zwischen den einzelnen kognitiven Elementen ist offensichtlich nicht notwendig, da alle Elemente die strafrechtliche Verantwortung des Täters für eine vorsätzliche Straftat begründen. Dagegen ist es wichtig, dass man den Inhalt des Ausdrucks „was der Täter in Bezug auf die Tat [...] erkannt oder angenommen hat“ präzisieren kann. Die kognitive Einstellung, welche durch diese Ausdrücke gemeint ist, begründet den niedrigsten Grad der strafbegründenden Einsicht beim Täter und damit die Grenze zwischen vorsätzlichen und nicht vorsätzlichen Taten.

Der Einsichtsvorsatzwird in dem Gutachten als „qualifizierter Wahrscheinlichkeitsvorsatz“ bezeichnet. Da­mit meint man, dass der Grad der Einsicht beim Täter hinsichtlich der Tatumstände höher anzusetzen ist als beim „gewöhnlichen“ Wahrscheinlichkeitsvorsatz. Man vermeidet jedoch, den Grad der Wahrscheinlich­keit in Prozentzahlen auszudrücken und zwar wegen des Risikos der Objektivisierung der Wahrscheinlichkeit in der Gerichtspraxis.

Soweit es um die praktischen Konsequenzen der möglichen Einführung der neuen Definition geht, rechnet das Gutachten damit, dass sich im Vergleich mit der bestehenden Praxis die Strafbarkeit von schweren Gewalttaten etwas erweitert. Bezüglich anderer Straftaten werden keine Veränderungen erwartet.

Der Unterschied zwischen den Schuldformen, die aktuell im schwedischen Strafrecht Anwendung finden und solchen, die gelten würden, wenn der Vorschlag des Gutachtens umgesetzt würde, kann mittels der folgenden schematischen Darstellung der Problematik verdeutlicht werden:

Fig. 1. Schuldformen (das geltende Recht)

Fig. 2. Schuldformen (der Vorschlag)

4. Einige Anmerkungen

Der Vorschlag der neuen Vorsatzdefinition ruht auf einer soliden theoretischen Grundlage. Hat man die grundlegenden Ausgangspunkte akzeptiert, auf denen die Ausformung des Vorsatzbegriffes – wie vorgeschlagen – basiert, d. h. in erster Linie eine konsequente Anbindung der Vorsatzdefinition an das kognitive Element, gibt es keinen Grund, die Ausformung der Definition selbst in Frage zu stellen. Es kann auch nicht daran gezweifelt werden, dass der vorgeschlagene Vorsatzbegriff rationeller ist und dadurch auch verständlicher als der Eventualvorsatz, der mit Hilfe der hypothetischen Prüfung festgestellt wird und der in Schweden immer noch als das geltende Recht angesehen wird.

Der Vorschlag wirft jedoch auch gewisse Fragen auf. Die wichtigste und wohl schwierigste Frage, die auch in diesem Aufsatz behandelt wird, ist die nach dem Verhältnis zwischen der vorgeschlagenen Vorsatzdefinition zum Fahrlässigkeitsbegriff, genauer gesagt zum Begriff der bewussten Fahrlässigkeit. In dem Gutachten wird diese Frage nur sporadisch angesprochen. Es wird keine Erklärung dafür bereitgestellt, auf welche Weise die Grenze zwischen Einsichtsvorsatz und der bewussten Fahrlässigkeit gezogen werden soll. Auch ein „Probedurchgang“ mit einigen typischen Fällen, an denen der Einsichtsvorsatz geprüft wurde, ergab keine Leitlinie für die Behandlung der Grenzziehung.

Man kann sich zwei typische Situationen vorstellen, in welchen das Gericht feststellt, dass in einem konkreten Fall der Einsichtsvorsatz nicht gegeben ist.

Zunächst kann das Gericht lediglich feststellen, dass der Angeklagte weder eingesehen, noch erkannt oder angenommen hat, dass der strafrechtliche Erfolg eintreten wird. In diesem Fall ist auch die bewusste Fahrlässigkeit ausgeschlossen, da diese Schuldform voraussetzt, dass der Täter das Risiko für eine bestimmte Folge eingesehen hat.

Die andere denkbare Situation ist, dass das Gericht feststellt, dass der Angeklagte an für sich eingesehen, erkannt oder angenommen hat (haben müsste), dass er einen Tatbestand verwirklichen wird, hatte jedoch gute Gründe, die Verwirklichung des strafrechtlichen Erfolgs als weniger wahrscheinlich anzusehen. In einem solchen Fall könnte die strafrechtliche Verantwortung für eine bewusst fahrlässige Tat begründet sein.

Die Verurteilung für eine bewusst fahrlässige Straftat in dieser Situation ist jedoch nicht unproblematisch. Das Risiko für eine Objektivisierung von Wahrscheinlichkeitsgraden, die vom Gutachten vermieden werden wollte, liegt hier klar auf der Hand. Als ein schwerwiegenderes Problem sehe ich jedoch den Umstand, dass die Grenzziehung zwischen vorsätzlichen und fahrlässigen Straftaten willkürlich werden kann. In dem Gutachten wird behauptet, dass die Beweisführungsmöglichkeiten für die Einführung des Einsichtsvorsatzes als der niedrigsten Vorsatzform sprechen. Was jedoch gemeint ist, ist die Beweisführung im Vergleich mit der Beweisführung gerichtet auf den hypothetischen Eventualvorsatz. Hierin teile ich die Ansicht des Gutachtens. Es kann jedoch extrem schwer sein, einen Beweis darüber zu führen, welche Wahrscheinlichkeit der Täter für den Eintritt des Erfolges angenommen hatte. Und wie soll man einen Sachverhalt beurteilen, in dem der Täter den Erfolg als sehr wahrscheinlich eingeschätzt hat, obwohl die Wahrscheinlichkeit bei objektiver Betrachtung sehr niedrig war? Schließlich kann man die Frage stellen, ob die Notwendigkeit, in einer solchen Situation nur wegen einer fahrlässigen Tat zu verurteilen, aus kriminalpolitischer Sicht annehmbar ist. Ein solcher Ausgang des Gerichtsverfahrens kann unzufriedenstellend sein, insbesondere wenn ein relativ kleines Risiko für einen sehr großen Schaden besteht, z. B. die Infizierung mit dem HIVirus durch Geschlechtsverkehr. In dem Gutachten wird festgestellt, dass in solchen Fällen der Einsichtsvorsatz nicht zu zufriedenstellenden Ergebnissen führt, und befürwortet dafür einen besonderen Tatbestand.

Man kann sich jedoch weitere Situationen vorstellen, in denen dieses Problem auftaucht (z. B. beim Umgang mit radioaktiven Materialien u.ä.).

Die schwerwiegendste Kritik, die meines Erachtens nach gegen den Einsichtsvorsatz gerichtet werden kann, ist, das die eventuelle Einführung dieser Vorsatzform beinahe vollständig die bewusste Fahrlässigkeit eliminiert. Ein Beispiel, das im Gutachten als Illustration der Anwendung des Einsichtsvorsatzes angeführt wird, bekräftigt diese Befürchtung:

Ein Autofahrer, der sich einem Fußgängerübergang nähert, an dem eine Person steht, die im Begriff ist, die Straße zu überqueren, stellt sich vor (sieht ein, erkennt oder nimmt an), dass der Fußgänger die Straße überqueren wird. Wenn der Autofahrer trotz dessen weiterfährt, sollte er wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt werden (vorsätzliche Körperverletzung oder versuchte Körperverletzung).

Selbstverständlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Autofahrer auch nach geltendem Recht, unter gewissen besonderen Umständen, wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt werden kann. Aber gewöhnlich würde er für eine fahrlässige Tat verurteilt werden (fahrlässige Körperverletzung oder fahrlässiger Totschlag). Bei dieser einseitigen Fokussierung auf das kognitive Element verliert man aus den Augen, dass der Autofahrer in der Hoffnung weiterfahren kann, dass der Fußgänger sich schließlich umschaut und stehen bleibt, was das normale Verhalten ist, mit dem auch der Autofahrer aus gutem Grund rechnen kann, oder dass der Autofahrer sich zutraut stehenzubleiben, sollte der Fußgänger sich trotz allem über die Straße begeben. Mit anderen Worten hat der Autofahrer darauf vertraut (ohne hinreichende Gründe) dass der strafrechtliche Erfolg nicht eintritt. Was wir ihm vorwerfen können, ist seine Nichtbeachtung des Risikos, das der Situation innewohnte und das er erkannt hatte, aber nicht, dass er die strafrechtliche Folge gebilligt hätte. Man kann weiterdenken und die Frage stellen, wie man unter Anwendung des Einsichtsvorsatzes eine Situation beurteilen würde, in welcher der Autofahrer, der das Risiko erkannt hat, gewisse Vorsichts­maß­nahmen getroffen hat, z. B. die Fahrt verlangsamte, aber nicht ausreichen, um eine Kollision zu vermeiden. Es scheint, als gäbe es im Rahmen der Anwendung des Einsichtsvorsatzes keinen Raum für die Beachtung dieser Umstände.

In diesem Zusammenhang kann bemerkt werden, dass das Gutachten bei seinen Überlegungen den Gleich­gültigkeitsvorsatz (faktischer Eventualvorsatz) deshalb kritisiert, weil der strafbare Bereich der bewussten Fahrlässigkeit bei einer eventuellen Einführung dieser Variante des Eventualvorsatzes beinahe verschwinden würde. Ich teile diese Auffassung nicht.

Der Vorschlag zur Einführung der neuen Vorsatzdefinitionen führte nicht zu einer Gesetzänderung. Dennoch ist diese Frage hochaktuell. In einem Fall vom letzten Jahr wurde ein Mann u. a. wegen versuchter schwerer Körperverletzung angeklagt. Bei einer Polizeikontrolle fuhr er direkt auf den Polizeibeamten zu, der sich dadurch retten musste, dass er zur Seite sprang. In den ersten beiden Instanzen wurde er wegen versuchter schwerer Körperverletzung verurteilt. In der zweiten Instanz stellte das Gericht in seiner Begründung fest, dass dem Angeklagten weder Absicht noch direkter Vorsatz zur Verletzung des Polizeibeamten nachzuweisen ist. Des weiteren prüfte das Gericht, ob der Angeklagte mit Eventualvorsatz gehandelt hatte. Auch diese Vorsatzform konnte gemäß dem Gericht nicht nachgewiesen werden, so dass es feststellte, „dass die Anwendung der traditionellen Vorsatzformen dazu führt, dass die Anklage wegen versuchter schwerer Körperverletzung abzuweisen ist“. Danach verurteilte das Gericht den Angeklagten wegen versuchter schwerer Körperverletzung unter Anwendung des Einsichtsvorsatzes. Im Zeitpunkt dieses Beitrags ist der Fall beim Obersten Gericht anhängig und noch nicht entschieden. *5

Wie vielleicht aus dem bereits Gesagten deutlich wird, hoffe ich nicht, dass sich das Oberste Gericht den Einsichtsvorsatz zu eigen machen wird. Eine Vorsatzdefinition, geschrieben oder ungeschrieben, sollte meiner Ansicht nach ermöglichen, dass alle Elemente berücksichtigt werden, welche als relevant für die Beurteilung der inneren Einstellung des Täters zu seiner Tat angesehen werden können. Der Einsichtsvorsatz betrachtet zweifellos das wichtigste Element in dieser Hinsicht, nämlich das Wissen des Täters darüber, was er eigentlich tut. Eine auf dem Schuldprinzip basierende Strafrechtsordnung muss sich jedoch bemühen, die innere Einstellung des Täters über sein Tun festzustellen. Aus dieser Perspektive ist unsere Kenntnis darüber, was der Täter wusste, nur ein Indiz, auch wenn das wichtigste, das es uns ermöglicht, ziemlich sichere Schlussfolgerungen auf die Einstellung des Täters zur Straftat zu ziehen. Es gibt allerdings keinen Grund, sich der Möglichkeit zu berauben, auch andere relevante Umstände als lediglich das Wissen des Täters in Betracht zu ziehen. Meiner Meinung nach kann der Einsichtsvorsatz mit seiner Fokussierung auf die Einsicht, Erkenntnis oder Annahme des Täters dazu führen, dass man die anderen relevanten Umstände aus den Augen verliert. Vielleicht nicht in der Theorie, aber in der Praxis. Einen solchen Nachteil sehe ich nicht beim faktischen Eventualvorsatz, der gerade dazu auffordert, sowohl die Einsicht des Täters als auch andere relevante Tatsachen in Betracht zu ziehen.

PDF

pp.55-61